Das Mauerparadox

aus OWEP 3/2019  •  von Dejan Mihailović

Dejan Mihailović (geb. 1951), Redakteur beim größten serbischen Verlag „Laguna“, publiziert Kurzgeschichten und Romane sowie Übersetzungen aus dem Russischen und Englischen.

Aus Bremen, wo ich 1988 einen Freund besuchte, reiste ich für eine Woche nach West-Berlin. Die alte deutsche Hauptstadt, so schien es mir, war voller Busse, an denen Reklameschilder für „Wodka Gorbatschow“ angebracht waren, obwohl der russische Emigrant Lew Leontjewitsch Gorbatschow schon 1921 angefangen hatte, diese deutsche Marke des russischen Getränks in Berlin herzustellen. Aber ein anderer Gorbatschow, Michail Sergejewitsch, zog damals die Aufmerksamkeit der Deutschen und der ganzen Welt auf sich. Deutschland war noch nicht wiedervereint, die Berliner Mauer verlief als Symbol für die Aufteilung der Welt über den Potsdamer Platz, und Jugoslawien, woher ich kam, war noch nicht blutig zerfallen. Ich sah das Brandenburger Tor über die Mauer, und ich wohnte in einem Hotel am Kurfürstendamm, an dessen Ende sich die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche mit der restaurierten Ruine ihres alten Turms wie ein Mahnmal erhob. Vor dem berühmten Kaufhaus KaDeWe am Wittenbergplatz, vor dem U-Bahn-Eingang, erstaunte mich die Botschaft an einer Gedächtnistafel, die die neuen Deutschen errichtet hatten „Orte des Schreckens, die wir niemals vergessen dürfen“, und darunter folgen die berüchtigten Namen: Auschwitz, Stutthof, Majdanek, Treblinka, Theresienstadt, Buchenwald, Dachau ...

Nach einigen Tagen fuhr ich mit einer organisierten Gruppe mit der Untergrundbahn nach Ost-Berlin. Zur Gruppe gehörten Touristen aus der ganzen Welt, sogar einige Indonesier waren dabei, die nicht einreisen durften und umkehren mussten, weil sie kein Visum hatten. Wir wollten alle unter dem Schutz der Reisegruppe in eine dunkle Ecke des östlichen kommunistischen Paradieses blicken. Der Reiseführer betonte gleich, dass wir zusammenbleiben sollten, dass wir uns nicht von der Gruppe entfernen oder in Nebenstraßen abbiegen sollten, dass wir nirgendwo alleine hingehen und nichts ohne sein Wissen unternehmen sollten. Als wir aus einer Unterführung an die Oberfläche tauchten, hatten wir vor uns den Blick auf den riesigen, leeren und mitten am Tag etwas grauen Alexanderplatz. Auf mich, der ich aus Jugoslawien kam, das damals mit dem Osten und mit dem Westen versöhnt war, aber noch kein KaDeWe und auch keinen Lidl hatte, weder glänzende Schaufenster noch beleuchtete Prachtstraßen, auf mich also wirkte Ost-Berlin keineswegs feindlich. Es war mir vielmehr nah und erinnerte mich an Belgrad, gerade wegen des Grautons und der Atmosphäre, die in allen Ländern des Ostblocks gleich war und die am besten Czesław Miłosz in „Verführtes Denken“ beschrieben hat. Zum Entsetzen des Reiseführers, der uns zum Brandenburger Tor geführt hat, mit dem Hauptziel, uns aus sicherer Entfernung die nahegelegene sowjetische Botschaft zu zeigen, sagte ich, dass ich gerne alleine durch die Stadt gehen würde, um zu einer bestimmten Zeit wieder an einem vereinbarten Ort zu sein. Ich ging zum Mittagessen in ein riesiges, leeres und preiswertes Restaurant, das unseren gesichtslosen sozialistischen Hochzeitspalästen ähnelte; die Speisekarte war bescheiden, aber der Kellner liebenswürdig und freundlich aufgelegt. Ich ging, oder besser: Ich lief durch die Alte Nationalgalerie, wo mir neben den ganzen Kunstschätzen nur eine strenge, ältere Wächterin im Gedächtnis blieb, die mehr an eine Parteikommissarin als an eine Bewacherin für Kunst erinnerte. Schließlich gelangte ich wieder, zufrieden mit meinem Abenteuer, zu meiner Gruppe, die sich schon um mein Schicksal gesorgt hatte.

Was für Paradoxa herrschen über die Welt, frage ich mich heute, wie ich mich das auch damals gefragt habe. Welche Kriegskatastrophen und welche Psychopathen mussten am Werk gewesen sein, dass wir als Jugoslawen in ein geteiltes Deutschland kamen (sodass wir in Ostdeutschland Mangel und Grau sahen, hingegen im Westen die Kultur, das Licht und den Überfluss bewunderten)? Und welche Kriegskatastrophen und welche Psychopathen waren ein halbes Jahrhundert später am Werk, dass wir in die Länder des einst gemeinsamen Staates Jugoslawien heute als Ausländer reisen?

Die Berliner Mauer ist gefallen, und die Folgen waren mehr als positiv: Das vereinte Europa wird immer größer, ganze Nationen haben Freiheit und Unabhängigkeit erlangt, die Welt ist ein globales Dorf geworden. Doch über diesem Dorf schwebt nicht mehr der kosmopolitische Geist oder die Energie des Aufstands von 1989, und Fernsehsender übertragen live aus Kriegsgebieten; die Menschen kennen sich immer weniger persönlich, sondern mehr über ihre Mobiltelefone. In den USA und mitten in der EU werden neue Mauern gebaut, diejenigen, die heute am meisten reisen, sind die Emigranten.

Über Jugoslawien aber, von Diktaturen und der verderblichen Balkanmentalität verhärmt, ist nach dem Fall der Berliner Mauer für eine kurze Zeit die Hoffnung aufgeblitzt, dass das Land endlich in den Schutz der fortschrittlichen und vereinigten Welt gelangen könnte. Aber dann haben sich neue Kriegswirbel erhoben, und statt der großen haben kleine Diktatoren die Macht erlangt. In meinem jetzigen Land haben die Bürger bis heute die Grenzen nicht aus ihren Köpfen getilgt: Das Zeigen mit dem Finger auf die Verbrechen anderer treibt uns noch weiter in die Isolation. Solange nicht auf einem der wichtigen Plätze in Belgrad eine Gedenktafel steht mit der Aufschrift: „Wir werden nie vergessen: Sarajevo, Srebrenica, Ovčara, die Kühlwagen voller Leichen...“, werden wir von Mauern umgeben bleiben.

Aus dem Serbischen übersetzt von Thomas Bremer.