„Die Existenz der Ukraine ist eine Gefahr für Russland.“

Ein Gespräch mit Oksana Syroiid
aus OWEP 4/2019  •  von Michael Albus

Oksana Syroiid amtierte zum Zeitpunkt des Interviews im August 2019 als Vizepräsidentin des ukrainischen Parlaments; dem am 21. Juli 2019 neugewählten Parlament gehört sie nicht mehr an. – Die Fragen stellte Michael Albus.

In der Ukraine hat gerade die Wahl zum Parlament stattgefunden. Wie beurteilen Sie den Ausgang dieser Wahl? In Deutschland hören wir: Ja, die Populisten haben gesiegt! Ist das ein Klischee?

Heutzutage beobachten wir nicht nur in der Ukraine, sondern in Europa, ja in der ganzen Welt einen Trend, der nicht einfach mit Populismus gleichzusetzen ist. Die Menschen wollen die alten Eliten weghaben. Sie möchten von etwas Neuem begeistert werden. Das hängt auch mit der digitalen Revolution zusammen. Die Menschen haben immer mehr Zugang zu Informationen aller Art. Das Problem liegt nicht eigentlich bei den Medien. In einem offenen Meinungsaustausch innerhalb der Gesellschaft und zwischen den Individuen und Gruppen werden viele Illusionen entlarvt und zerstört.

In Deutschland sind viele der Meinung, auch in den Medien, Selenskyj, der neue Präsident, sei nur ein Komödiant, ein Schauspieler. Und er wird die anstehenden Probleme des Landes nicht lösen können, weil er keinerlei politische Erfahrung hat. Was antworten Sie darauf?

Natürlich wissen alle Menschen in der Ukraine, dass die gegenwärtige Lage des Landes eine große Herausforderung für den neuen Präsidenten ist. Natürlich wissen wir, dass er keine Erfahrung in der Führung und Leitung eines Staates hat. Wir beobachten ganz genau, wie er mit den Herausforderungen und Problemen umgehen und welche Lösungen er versuchen wird. Wir wissen auch, dass es einige russische Oligarchen gibt, die wieder mächtigen Einfluss auf den Staat nehmen wollen. Wir werden bald sehen, welchen Einfluss sie wirklich haben und auf welche Gruppierungen im neuen Parlament sie Zugriff nehmen werden.

In diesem Zusammenhang will ich den Namen Putin erwähnen. Was wird er tun? Mit Selenskyj zum Beispiel? Damit ist auch die Frage verbunden, wie lange der Krieg noch dauern wird. Bei uns in Deutschland, aber auch in anderen Teilen Europas, auch in Teilen der Ukraine, scheint der Krieg vergessen zu sein.

Für mich persönlich ist es ganz egal, was Putin darüber denkt. Die Meinung der ukrainischen Gesellschaft ist mir wichtig. Der Einfluss Russlands auf die Ukraine war immer groß. Und immer wieder haben wir aggressive Handlungen von dieser Seite aus wahrnehmen und feststellen müssen. Für Putin ist es heute wichtig, Einfluss auf die zwei Meere nehmen zu können: auf das Schwarze Meer und das Asowsche Meer und somit über das gesamte Territorium entlang der Linie zwischen St. Petersburg und Rostow mit seiner geopolitischen Bedeutung und seinen Ressourcen. Die Existenz der Ukraine ist eine Gefahr für Russland, zweifellos. Es ist eine Herausforderung für Russland, dass sich die Ukraine als Nation behauptet.

Ich habe in diesen Tagen viel darüber gehört, wie sich die Bürgerinnen und Bürger der Ukraine ihre Zukunft vorstellen: kein Krieg mehr, keine Spaltungen mehr, eine moderne demokratische Gesellschaft. Wie soll die Ukraine am Ende aller Konflikte – wenn es überhaupt ein Ende gibt – aussehen?

Eine der größten Gefahren für den neuen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj ist, dass der Krieg nicht „einfach so“ zu Ende sein kann: Er kann entweder nur gewonnen oder nur verloren werden. Etwas dazwischen gibt es nicht. Dass Selenskyj im Wahlkampf mit der Illusion geworben hat, er werde den Krieg bald zu Ende bringen, könnte für ihn noch zu einer Gefahr werden. Auch die Regierung davor hat mit dieser Illusion politisches Kapital machen wollen – ohne Erfolg.

Das Wichtigste ist, dass wir nicht schwächer werden dürfen. Russland würde das sofort ausnutzen. Wir werden genau beobachtet. Und der Druck von dort, militärisch wie wirtschaftlich, wird weiter aufrechterhalten. Wir müssen uns einfach auf allen Ebenen kontinuierlich weiter entwickeln und dürfen nicht stehen bleiben, dürfen nicht schwächer werden, denn dann würden wir alles verlieren.