Glaube oder Zweifel – ohne Beweisgrundlage
Glaube als Entscheidung
Glauben – es ist ein seltsames Wort, das zu den mentalen Prädikaten gehört – so würde die Linguistin in mir sagen. Glauben stammt aus althochdeutsch gilouben, was soviel bedeutet wie für lieb halten, gutheißen, und ist sehr persönlich, dadurch ist es subjektiv, weil man für glauben keine Kenntnisse oder, genauer gesagt, keine Beweisgrundlage braucht. Man glaubt, weil man so entschieden hat.

Das Paradox aber besteht darin, dass gerade der subjektive Glaube die Menschheit zu Neuentdeckungen in der Wissenschaft bringt. Der ewige Begleiter des Glaubens ist der Zweifel, der aus zwei und falt stammt und in zwei geteilt bedeutet. Diese zwei Begriffe oder Phänomene spiegeln die menschliche Natur selbst wider und es könnte auch sein, dass sie ein eigenartiges Perpetuum mobile unseres Lebens bilden.
Man kann eine Klassifikation der Menschen auf der Grundlage, wieviel man an Glauben und wieviel an Zweifel in sich trägt, aufbauen. Wir sind alle verschieden – manche glauben sofort und brauchen keine Beweise, aber es gibt solche wie Thomas, der an der Auferstehung von Jesus zunächst zweifelte, bis er selbst die Wundmale des Auferstandenen sah und seine Finger in die Wunde legte. Diesen Namen habe ich oft als Kind gehört, zusammen mit dem Adjektiv ungläubiger.
Meine Mama bemerkte gern über sich selbst, dass sie ein ungläubiger Thomas sei, weil sie immer schon Skeptikerin war. Seit meiner Kindheit wurde ich gelehrt, dass man niemanden trauen kann, weil das gefährlich sein könnte. Von Anfang an war ich sehr zutraulich. Oft hörte ich „Volha, du bist so naiv“. Um meine Naivität zu bekämpfen, nahm man auch Sprüche zu Hilfe:
Trau, schau, wem!
Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.
Naivität ist schlimmer als Diebstahl.
Ich gab nach und habe zu zweifeln begonnen. Komischerweise zuerst an mir selbst. Lange Zeit war es mein Problem, dass ich anderen glaubte, aber nur, wenn sie schlechte Sachen sagten. Wenn jemand etwas Gutes sagte, konnte ich das nicht glauben. Es schien mir zu gut, um wahr zu sein.
Zweifel und Ängste
Ich denke an Petrus, der aus dem Boot ausstieg und auf dem Wasser auf Jesus zuging. Doch als er merkte, wie heftig der Sturm war, fürchtete er sich. Er begann zu sinken. Dann hat ihn Jesus gefragt Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt? Ich weiß nicht, was Petrus geantwortet hat, aber ich würde sagen: weil ich ein Mensch bin.
Angst zu haben ist oft der Grund, warum man Zweifel hat. Es ist aber wichtig, die Ängste zu unterscheiden. Es gibt Ängste, die unser Leben retten können, wenn wir in Lebensgefahr sind. Es gibt auch andere Ängste, die mit unseren sozialen Rollen und unserem Status verbunden sind – die sind meistens giftig und können uns die Ruhe aus unserem Leben für lange Zeit nehmen.
Warum zweifeln wir? Weil wir uns selbst nicht kennen. Andererseits bedeutet Zweifeln, Fragen zu stellen und nicht zu dogmatisiert zu sein, das heißt, der Zweifel ist nicht immer schlecht. Die meisten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mussten erst an dem, was sie schon wussten oder an was der Rest der Welt glaubte, zweifeln.
Im Laufe der Geschichte trifft man viele, die für ihre Überzeugungen gelitten haben. Aber ihre Fragen brachten uns dahin, wo wir heute sind. Der Philosoph Michel de Montaigne schrieb über Hexen und Zauberer, die die meisten Menschen seiner Zeit, darunter Gebildete, der Verschwörung mit dem Teufel beschuldigt hatten: „Wie hoch muss man seine Meinung halten, um es zu wagen, einen Menschen lebendig zu verbrennen?“ In diesen Sinn würde der Zweifel viele Leben retten können.
In dem chinesischen Film „Die Welt ohne Diebe“1 sind die Hauptfiguren Diebe, aber die Protagonistin des Films, eine Frau, beschließt, diesen Weg zu verlassen, nachdem sie bemerkt hat, dass sie schwanger ist. Genau in diesem Moment trifft sie einen Dorfjungen, der früher in einem buddhistischen Tempel gearbeitet hat und jetzt mit einer sehr großen Summe bar verdienten Geldes nach Hause geht. Die Frau will diesen Jungen beschützen, während ihr Partner ihm eine Lektion erteilen will (d. h. sein Geld stehlen), er sagt, dass er lernen soll, dass nichts so ist, wie es aussieht.
Begegnung mit Betrug
Ich selbst wurde zum Opfer von Betrügern. Sie sprachen mit mir auf eine nette Art, aber ich sagte zu ihnen, dass mir das alles ein bisschen komisch vorkommt und ich Angst hätte. Aber sie versicherten mir, ich hätte nichts zu befürchten – und dann verschwand eine große Summe von meinem Konto. Ich war schockiert und konnte nicht glauben, dass so etwas möglich war. Ich habe sie nicht verurteilt, ich versuchte einfach zu verstehen, warum so etwas passiert, warum es solche Menschen gibt. Es war schade, viel Geld zu verlieren, aber noch schlimmer war zu erleben, dass mein Gut-Sein mich nicht vor Kriminellen schützt. Vielleicht sollte ich aufmerksamer sein?
Zu diesem Zeitpunkt hatte ich wenig soziale Kontakte – laut Statistik sind die häufigsten Opfer von Betrügern Frauen im Mutterschaftsurlaub und ältere Menschen, da sie meist allein leben, sozusagen ihren Scharfsinn verlieren und vertrauensselig werden. Wenn man in der Natur lebt und nur gelegentlich mit Menschen spricht, fängt man an, sie so zu behandeln, wie man Vögel oder Eichhörnchen behandelt, die nicht versuchen, dein Geld zu stehlen, indem sie dich anlügen. Wie der Dorfjunge aus dem Film, der mit den Wölfen sprach, als er im Tempel arbeitete: „Die Wölfe haben mir nichts Böses getan, warum sollen es dann die Menschen? Sind die Menschen schlimmer als die Wölfe?“ Das ist eine gute Frage, aber ich fürchte, sie ist nicht angemessen, da Wölfe und Menschen nach unterschiedlichen Regeln und Gesetzen leben.
Es gab auch eine Sache, die bei dieser Konto-Geschichte herauskam, und zwar die Reaktion meiner Freundinnen. Ich habe eine Tendenz bemerkt: Die Bekannten aus meinem Heimatland fragten, wie ich so naiv sein konnte, und behaupteten, es sei meine eigene Schuld gewesen und dass es mir eine Lehre sein werde. Sie waren sehr streng, fast wütend auf mich. Ein holländisches Mädchen und eine deutsche Bekannte hingegen waren alle sehr einfühlsam und erwähnten nie meine Naivität in Bezug auf die Lektion. Unser Vertrauensgrad hängt auch davon ab, unter welchen Umständen wir aufgewachsen sind. Manchmal, wenn mein Partner, der ein Deutscher ist, über den Staat oder Demokratie spricht, meckere ich, weil seine Ideen zu naiv für mich scheinen, die aus einem Land kommt, wo es seit langer Zeit kein Vertrauen mehr in die Regierung gibt.
Der Umgang mit dem Schicksal
Die schwierigste Aufgabe ist es zu lernen, dem Leben und dem Universum zu vertrauen, vor allem, wenn man unter Menschen lebt. Wir werden dazu verleitet, schnelle Schlüsse zu ziehen, wenn etwas Schlimmes passiert. Aber auch guten Menschen passieren schlimme Dinge. Für diejenigen, die an Karma, Schicksal oder an frühere Leben glauben, ist es vielleicht einfacher zu akzeptieren – oder genauer gesagt liefert es zumindest eine Art Erklärung. Man hat nach den Regeln gelebt, alles getan, was man ihm/ihr/ihnen beigebracht hat, und trotzdem ist diese Tragödie passiert. Das führt uns zu einer wichtigen Sache: Als Menschen können wir die äußeren Umstände nicht kontrollieren – auch wenn man glaubt, dass man das tut – es ist nur eine Illusion, weil die einzige Konstante im Leben Veränderung ist. Das Gleichgewicht zwischen Glauben und Zweifel kann uns helfen, weniger Fehler zu machen, nicht von unserem Glauben und Überzeugungen geblendet zu sein und doch auf das Gute im Menschen zu vertrauen. In solcher Balance ist es einfacher, bedingungslose Liebe zu lebendigen Wesen und Empathie zu entwickeln.
Ich denke, die Poesie leistet hier gute Arbeit, sie lehrt uns, zu beobachten und zu denken, Fragen zu stellen und nicht nur auf uns selbst, sondern auch auf andere zu sehen. Ihre verschiedenen Formen zeigen, wie einzigartig jeder Mensch jeder Kultur ist, aber sie demonstriert auch, dass wir, Menschen aus verschiedenen Zeiten und Kontinenten, dieselben Gedanken und Gefühle teilen. Die Poesie ist die Zeugin, die uns zeigt, dass alles und alle in diesem Weltall miteinander verbunden sind. Deshalb vertraue ich ihr und habe ihr mein Leben gewidmet.
Fußnote:
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Der chinesische Film „Die Welt ohne Diebe (Tiān Xià Wú Zéi, englisch A World Without Thieves) von 2014 (Regie: Feng Xiaogang). ↩︎