„Hallo Großungarn“ – der Vertrag von Trianon als Fixpunkt ungarischer Nationalisten

aus OWEP 2/2020  •  von Stephan Ozsváth

Stephan Ozsváth war bis 2017 ARD-Hörfunk-Korrespondent im Studio Südosteuropa/Wien. Er beobachtet Ungarn seit vielen Jahren als Journalist und hat dazu zahlreiche Beiträge verfasst, u. a. das Buch „Puszta-Populismus. Viktor Orbán – ein europäischer Störfall?“ Er stellte auch die Bilder im Beitrag zur Verfügung.

Zusammenfassung

Nach Ende des Ersten Weltkriegs schrumpfte Ungarn durch die Beschlüsse des Vertrags von Trianon zu einem Kleinstaat – ein Trauma, das die Entwicklung des Landes zwischen den Weltkriegen beherrschte. Wie der folgende Beitrag deutlich macht, wird heutzutage die ungarische Geschichte seit 1920 umgedeutet, wobei häufig anerkannte Fakten auf den Kopf gestellt werden.

Vor hundert Jahren ordneten die alliierten Siegermächte nach dem Ersten Weltkrieg die Landkarte Europas neu. Ungarn verlor mit dem Vertrag von Trianon (4. Juni 1920) zwei Drittel seines Territoriums an die Anrainerstaaten. Neu entstandene Staaten wie die Tschechoslowakei profitierten, ebenso Rumänien, das während des Ersten Weltkrieges die Seiten gewechselt hatte. Aber auch die Wojwodina, Gebiete in der Karpato-Ukraine und dem heutigen Slowenien gingen verloren. Drei Millionen Ungarn waren plötzlich Bürger anderer Staaten. Österreich war im Vertrag von St. Germain schon 1919 Deutsch-Westungarn zugesprochen worden – die westungarische Barockstadt Sopron wurde 1921 zur „treuen Stadt“, weil sie in einer Volksabstimmung für den Verbleib bei Ungarn stimmte. Heute wirbt Sopron mit dem Slogan: „Stadt der Treue und Freiheit“, denn 1989 hatten mehrere hundert Ostdeutsche beim Paneuropäischen Picknick die Grenze nach Österreich durchbrochen.

Schmerz als einigendes Band

Die Schritte hallen im Untergeschoss des Budapester Westbahnhofs wider, die Hauptstädter eilen zur U-Bahn. Nicht mal eine Handvoll ältere Männer haben einen kleinen Stand aufgebaut, einer trägt eine Filzkappe mit Zipfel und Fellborte, wie sie tatarische Reiter getragen haben mögen, zur dunklen Nylon-Winterjacke. „Trianon ist nicht ewig. Nichts ist in Stein gemeißelt“ steht auf dem Transparent, das sie zwischen zwei Säulen gespannt haben. Vor den Auslagen einer Bäckereikette leuchtet es in den Nationalfarben Rot-Weiß-Grün. „Weg mit Trianon – Gerechtigkeit für Ungarn“ fordert ein anderes Transparent. Seit Jahren sammelt der Weltbund der Ungarn (Magyarok Világ Szövetsége) in den Budapester U-Bahnstationen Unterschriften. Den Verband gibt es seit 1938, er steht der Kirche nah und ist stramm rechts. Der Gott der Heimattreuen ist der „ungarische Gott“, von dem im gleichnamigen Gedicht (1848) von Nationaldichter Sándor Petöfi die Rede ist. Die schützende Hand des Vaters umarme „unsere Heimat“, die er vor allerlei widrigen Stürmen schütze, heißt es da, ein Amalgam aus Suche nach göttlichem Beistand und nationalem Erwachen. An der Nachkriegsordnung reiben sich laut Internetseite des Weltverbandes der Ungarn nicht nur Bürgermeister der Regierungspartei Fidesz, sondern auch rechtsextreme Aktivisten wie der einschlägig bekannt György Budaházy oder die Rockband Kárpátia, die mit Trianon-Opfer-Kult, Großungarn-Fantasien und der Verehrung des Reichsverwesers Miklós Horthy Konzerthallen füllen. Sie alle haben unterschrieben. Sie alle eint Trianon.

Rechtsrock-Bands entdecken Trianon

Rechtsrock-CDs wie von Kárpátia mit Anspielungen auf Trianon (Foto: Stephan Ozsváth)

„Nein, Nein, Niemals“ (Nem, nem, soha) lautet der Refrain eines Kárpátia-Liedes – das dreifache Nein (Tria-Non) war die außenpolitische Losung in der Zwischenkriegszeit unter Horthy, dessen Außenpolitik auf die Wiedergewinnung der verlorenen Gebiete gerichtet war. „An das Friedensdiktat von Trianon müssen wir erinnern“, sagt heute der Kárpátia-Sänger János Petrás. Es symbolisiere die Zerrissenheit des Landes. „Wir hoffen, Trianon verschwindet“, ist seine revisionistische Formel. „Dafür kämpfen wir“. Auf seinen Konzerten begrüßt Petrás seine Fans auch schon mal mit der Formel „Hallo Großungarn“. Einschlägige Aufkleber, Aufnäher und T-Shirts gehören zum Fanartikel-Sortiment der Band Kárpátia, da werden Bogenschützen zu Pferd und die mittelalterlichen Ängste vor den marodierenden Reitern bemüht („Gott schütze uns vor den Pfeilen der Ungarn“), Trianon-Kreuze, Großungarn-Landkarten – Träume von einstiger Größe und Macht. Auch auf vielen Taxis und Privatautos klebt rot-weiß-grüne Nationalromantik. In Rumänien kommt das nicht gut an.

Problemfall Siebenbürgen

Seit Jahren schaukeln sich die Nationalisten hüben wie drüben hoch, obwohl es seit 1996 einen Grundlagenvertrag zwischen den beiden Staaten gibt. Im kollektiven Gedächtnis beider Nationen gilt Siebenbürgen als „Wiege ihrer Nationen“, regelmäßig war die Partei der rumänischen Ungarn Mehrheitsbeschaffer im Bukarester Parlament. Aber der Einfluss war „volatil“– wenn es rumänischen Machthabern opportun erscheint, auf dem Rücken der Minderheit Politik zu machen, tun sie dies. Und regelmäßig gießen ungarische Politiker aus Budapest Öl ins Feuer. Orbáns Stellvertreter Zsolt Semjén vom Bonsai-Koalitionspartner KDNP, der für die Auslandsungarn zuständig ist, besucht wie einst Horthy hoch zu Ross Siebenbürgen – eine Symbolsprache, die nicht nur jeder Ungar versteht, sondern auch die Rumänen. Für Spannung sorgt auch die Forderung nach Autonomie der etwa 1,4 Millionen Székler, der ungarischen Minderheit in Rumänien. Der reformierte Geistliche László Tökés – eine Symbolfigur des Aufstandes gegen den kommunistischen Machthaber Ceauşescu 1989/1990 – steckt viel Energie in dieses Projekt – mit einer eigenen Partei und außerdem auch lange Jahre im Europaparlament. Rückendeckung bekommt er dafür aus Budapest. In öffentlichkeitswirksamen Märschen demonstrieren viele tausend Ungarn in Siebenbürgen für die Autonomie der eigenen Volksgruppe. Die Rumänen dagegen lehnen die Autonomie der Székler rundheraus ab, sie sehen darin den Keim des Revisionismus.

2013 kommt es zum „Flaggenkrieg“, weil ungarisch-stämmige Bürgermeister in Rumänien die alte Széklerfahne – Halbmond und Sonne auf blauem Grund – auf den Rathausdächern hissen. Die rumänischen Behörden verhängen Geldbußen, die Flaggen müssen weichen. Am ungarischen Parlament in Budapest ersetzt Hausherr László Kövér aus Solidarität die blaue EU-Fahne mit dem Sternenkranz durch die Széklerfahne.

Horthy: Revisionismus als politisches Ziel

Das „dreifache Nein“ (Tria-Non), der Kampf gegen den Friedensvertrag von 1920 und vor allem die Wiedereingliederung der verlorenen Gebiete war das wichtigste außenpolitische Ziel des autoritären Reichsverwesers Miklós Horthy. Ihm wurde alles untergeordnet, Schulkinder beteten vor Schulbeginn: „Ich glaube an einen Gott, ich glaube an die Heimat, ich glaube an die ewige göttliche Gerechtigkeit, an Ungarns Wiederauferstehung“. Die Rechtsrock-Band Kárpátia hat das nationale Glaubensbekenntnis heute zum Bestandteil ihrer Bühnenperformance gemacht. Um die Trianon-Gebiete zurück zu bekommen, ließ sich der erklärte Antisemit Horthy in der Zwischenkriegszeit mit Adolf Hitler ein und opferte 300.000 Ungarn als Unterstützung im Russlandfeldzug der Deutschen. Das Kalkül Horthys ging zunächst auf. Mit dem Segen Nazi-Deutschlands konnten Horthys Truppen von Ungarn bewohnte Gebiete in der Karpato-Ukraine, Rumänien, Jugoslawien und der südlichen Slowakei wiederbesetzen. Die Alliierten erkannten die beiden Wiener Schiedsprüche von 1938 und 1940 nie an. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden sie annulliert, der Vertrag von Trianon bestätigt. Ungarn schrumpfte wieder auf die heutige Größe. „Trianon ist die große Wunde Ungarns“, sagt der Budapester Politologe Zoltán Kisszelly, der die Regierung Orbán berät.

Auslandsungarn als Wählerpool

Die Verantwortung für die Auslandsungarn ist eine Konstante der ungarischen Außenpolitik. Schon der erste (nationalkonservative) Nachwende-Premier József Antall betonte, sich „im Geiste als Ministerpräsident von fünfzehn Millionen Ungarn“ zu fühlen – bei zehn Millionen Einwohnern innerhalb der Grenzen des Mutterlandes Ungarn. Antalls Koalitionspartner József Torgyán sprach gar von der „Klagemauer Trianon“. Der Rechtsextreme István Csurka witterte revisionistische Morgenluft, als Jugoslawien zerfiel, und forderte eine Neuziehung der Grenzen Ungarns, was die Nachbarn in Habacht-Stellung gehen ließ. Die Regierung Orbán schlug einen sanfteren Weg ein, indem sie in ihrer ersten Amtszeit 1998 bis 2002 den Auslandsungarn mit dem Statusgesetz Vergünstigungen einräumte, etwa auf dem ungarischen Arbeitsmarkt oder in öffentlichen Verkehrsmitteln. Als Orbán die Parlamentswahlen 2010 gewann, legte er nach und gab seinen Landsleuten jenseits der Grenze die doppelte Staatsbürgerschaft und das Wahlrecht. Damit konnte er seinen Wählerpool für kommende Wahlen vergrößern, denn viele dankten es ihm mit dem Kreuz an der richtigen Stelle.

Wenige Monate nach Orbáns Wahlsieg 2010 erklärte das Parlament den Tag der Unterzeichnung des Trianon-Vertrages (4. Juni) zum „Tag des Nationalen Zusammenhalts“; Komponisten wurden beauftragt, Lieder zu kreieren, die die Ungarn hüben wie drüben der Grenzen singen könnten. Auch der neue Feiertag sorgte für Spannungen mit der Slowakei, weil die Auslandsungarn im Gesetz als Bestandteil des einigen ungarischen Volkes bezeichnet werden. Kurzum: Der „Volkskörper“ wird als größer definiert, als er in die aktuellen ungarischen Landesgrenzen passt. „Man kann das für Revisionismus light halten, wenn der ungarische Staat seine Hoheit auf diese Gebiete ausdehnt“, sagt der Budapester Historiker András Gerö. Eine gefühlte Fürsorgepflicht mag dabei eine Rolle spielen, letztlich geht es aber auch ganz profan um die Macht im Mutterland. Bei der Parlamentswahl 2018 etwa wurden in Bussen Wähler aus der Ukraine in die Grenzorte in Ungarn gekarrt. In einzelnen Häusern seien Dutzende ungarisch-stämmige Ukrainer registriert gewesen, berichtet Zsófia Banuta von der Nichtregierungsorganisation Unhack Democracy, die zahlreiche Wahlverstöße dokumentiert hat. Alle Unregelmäßigkeiten zusammen genommen garantierten erst die Zweidrittelmehrheit für Orbán, rechnet sie vor.

Die Wiederauferstehung Horthys

Während der Regierung Orbán ist die Zwischenkriegszeit in Symbolen auferstanden, die „nationale Tragödie“ Trianon wird in Büchern, Fernsehsendungen, Rocksongs beschworen. Im ganzen Land haben Bürgermeister Horthy-Statuen aufgestellt, im westungarischen Csókakö hat die Stadtführung sogar einen „Großungarn-Platz“ anlegen lassen, der dem Reichsverweser huldigt.

Ungarn in seinen historischen Grenzen vor dem Vertrag von Trianon (Darstellung auf dem „Großungarn-Platz“ in Csókakö) - Foto: Stephan Ozsváth

Das ostungarische Städtchen Kenderes bietet „Horthy-Touren“ zu Schloss und Mausoleum der hier einst ansässigen Familie an. Busse bringen Rentner in Scharen nach Kenderes, die das kleine Museum im Ort fluten. Regierungschef Orbán ist – wie zuvor schon Horthy – in eine Residenz auf dem Burgberg im Budapester Stadtteil Buda gezogen. Von dort blickt er auf Donau, Parlament und Innenstadt. Ein „außergewöhnlicher Staatsmann“ sei Horthy gewesen, sagte Orbán 2017 über den Reichsverweser, der für die ersten antijüdischen Gesetze verantwortlich war. Kein Wort davon, dass er die Deportationen von einer halben Million ungarischer Juden nicht nur geschehen ließ. Kein Wort davon, dass die ungarische Gendarmerie und staatliche Stellen wie die Bahn eilfertig Hilfsdienste leisteten.

„Die Orbánsche Geschichtspolitik erteilt die Absolution, indem sie behauptet, die Ungarn hätten immer selbstlos Europa verteidigt“ urteilt Historiker János Rainer. Sie seien aber „immer reingelegt worden“, so die Erzählung. Damit seien sie „die großen Opfer der Geschichte“. Rainer nennt diese Sicht auf die Vergangenheit, die keine Verantwortlichen kennt, „romantische Geschichtsauffassung“. Stein geworden ist sie in einem umstrittenen Denkmal in der Innenstadt von Budapest, das die deutschen Besatzer als Adler darstellt und das ungarische Volk als unschuldigen Erzengel Gabriel, der von diesem attackiert wird. „Geschichtsklitterung“ urteilten prominente Historiker wie Krisztián Ungváry und János Rainer in einem offenen Brief. Denn die ungarischen Kollaborateure der Nazis würden als Opfer dargestellt – eine Verhöhnung der Opfer des Holocaust. „Wir sind brav, wertvoll und unschuldig. Wer diese Aussagen infrage stellt, ist entweder Jude, Agent des Auslands oder Kommunist,“ ätzt der Historiker Krisztián Ungváry über die ungarische Geschichtspolitik. Orbáns Hofhistorikerin Mária Schmidt (Direktorin des umstrittenen Terrorhauses) plädiert dafür, die Nation im Schmerz zu einen. Wer das kritisiere, stelle sich „außerhalb der Nation“. Kurzum: Wem Trianon nicht weh genug tut, den macht die Regierung zum Dissidenten, für Juden ist in heimattreuen Kreisen die spezielle Vokabel Fremdherziger reserviert.

Die ideologische Bereinigung des öffentlichen Raums

Auch der Kossuth-Platz vor dem Parlament in Budapest bekommt ein neues Gesicht. Laut Historiker János Rainer soll er „so gestaltet werden, wie er am Ende der Herrschaft Horthys ausgesehen hat. Und da passt die Statue von Imre Nagy nicht hinein“. 30 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hat die Regierung die Symbolfigur des Aufstandes 1956 entfernen lassen. Mehr als zwei Jahrzehnte lang hatte der hingerichtete Regierungschef als Bronzestatue auf einer Brücke aus Panzerketten gestanden und auf das Parlament geblickt. Heute schaut er einige Hundert Meter entfernt auf die Donau, neben dem sogenannten „Weißen Haus“, in dem in der stalinistischen Rákosi-Zeit die Geheimpolizei saß, später die Führung der Kommunistischen Partei und heute die Abgeordneten ihre Büros haben. In Zeitungsartikeln griffen regierungstreue Historiker den Reformkommunisten Nagy an und richteten zum 60. Jahrestag des Ungarnaufstandes den Focus auf die „Pester Jungs“, die sich mit Waffe in der Hand und Molotow-Cocktails sowjetischen Panzern entgegenstellten. Auch der „rote Graf“ Mihály Károlyi, der nach der Asternrevolution 1918 mit gutem Beispiel bei der Landreform voran ging und seine Güter an das Volk verteilte und 1918 die Republik Ungarn ausrief, steht nicht mehr am Parlament. Béla Kun, der die Hauptrolle in der Räterepublik 1919 innehatte, wird totgeschwiegen. Eine überlebensgroße Kun-Statue wurde im Memento Park am Stadtrand von Budapest entsorgt, der Name des jüdischen Bolschewisten von den Straßenschildern getilgt. Auch die Statue des linken Dichters Attila József neben dem Parlament musste weichen. Anstelle von Imre Nagy erinnert heute eine monumentale Steinskulptur an die Toten des „roten Terrors“ der Räterepublik 1919. Das Denkmal aus den 1930er Jahren ist wiedererrichtet worden. „Damit kommen die Ästhetik und die Botschaften der Zwischenkriegszeit wieder“, meint die Soziologin Éva Kovács, die mittlerweile am Wiener Simon-Wiesenthal-Zentrum arbeitet, „von den Trianon-Denkmälern bis zur Entfernung von 1956er oder „linken“ Gedenkorten.“

Vorwurf der „Geschichtsklitterung“

Ungarn 2020: Ehrenwache an der Grabstätte von Reichsverweser Miklós Horthy beim Mausoleum der Familie Horthy in Kenderes (Foto: Stephan Ozsváth)

Ungarische Historiker werfen der Regierung Orbán Geschichtsklitterung vor, denn die Sicht auf die eigene Geschichte ist nicht ausgewogen. So lässt man die Opfer des „Weißen Terrors“ – also der Gräueltaten der Soldateska um Horthy mit deutlich antisemitischer Zielrichtung – unter den Tisch fallen und betont den „roten Terror“. Mehr noch: Der Orbán-Freund Zsolt Bayer konnte in einem Artikel sogar öffentlich bedauern, dass während des Kampfes der Freikorps gegen die Truppen der Budapester Räterepublik 1919 bei einem Massaker „im Wald von Orgovány nicht alle bis zum Hals verscharrt worden“ seien. Viele waren empört, die Regierung Orbán dagegen würdigte Bayer mit dem Ungarischen Verdienstorden am Ritterkreuz. In Artikeln und Fernsehsendungen feuert er Breitseiten gegen Brüssel, Roma, Linke und Juden ab – und wird dafür belohnt. Die Sicht Orbáns auf Reichsverweser Horthy folge einem simplen antikommunistischen Muster, meint Christian Koller, Mitherausgeber des Buchs „Die ungarische Räterepublik 1919“: „Die Räterepublik war schlecht“, fasst der Schweizer Historiker diese Lesart zusammen, „also ist per Umkehrschluss gut, was die Räterepublik überwunden hat“. Das waren die Truppen von Admiral Horthy. In dessen Tradition wolle man sich stellen.

Den hundertsten Jahrestag des Vertrages von Trianon begeht die Regierung Orbán mit einer hundert Meter langen und vier Meter breiten Rampe neben dem Budapester Parlament, die in die Tiefe führt. In die Mauern des dreizehn Millionen Euro teuren Bauwerks sind die Ortsnamen von mehr als zwölftausend Städten des Königreichs Ungarn gemäß dem Stand von 1913 eingraviert, in so mancher Ortschaft leben laut Historiker János Rainer heute gar keine oder wenige Ungarn. Der Philosoph Miklós Gáspár Tamás hält das Denkmal für einen „politischen Skandal“. Aber János Rainer warnt auch, das Gedenken zum Jahrestag der Trianon-Vertragsunterzeichnung als Ausdruck eines revisionistischen Projekts zu sehen. Niemand in Budapester Regierungsstuben sei so verwegen, Gebiete zurückzufordern und damit die europäische Friedensordnung in Frage zu stellen. „Die Botschaft dieses Trianon-Denkmals und ähnlicher Dinge ist eine innenpolitische“, sagt er. Die Idee vom „ungarischen Opfer“, der Einheit Ungarns, die immer wieder Rückschläge erlitten habe, aber als Gedanke fortlebe: „Das hält das Volk zusammen“ – es soll sich um Viktor Orbán scharen.

Dieses Opfer-Narrativ bemüht der Regierungschef, der seit einigen Jahren das Aussterben der Ungarn beschwört und die Gebärleistung ungarischer Mütter mit Prämien anheizen will, immer wieder. Ausländische Mächte seien für die Tragödien der ungarischen Geschichte verantwortlich, gestern Türken, Deutsche und Russen, heute die „Brüsseler Bürokraten“. Diese Erzählung wolle aus ungarischen Bürgern Untertanen machen, urteilt Soziologin Èva Kovács. „Für das, was mit ihnen in der Geschichte geschah, sind andere verantwortlich“. Das entlaste von historischer Verantwortung, halte die Ungarn aber auch in Angst. „Damit will Orbán eine kollektive Identität schaffen“. Das Trauma von Trianon solle die Nation im Schmerz einen – über die Grenzen hinweg. Doch in Wahrheit spalte Orbán sie, meint Éva Kovács. Denn das „Trianonisieren“ sorge für erhebliche Unruhe in den Nachbarstaaten und nütze den ungarischen Minderheiten dort nicht. „Trianon-Kult und Minderheitenpolitik – das passt nicht zusammen“.