„Heimatvertriebene sind prädestinierte Brückenbauer in ihre Herkunftsgebiete.“

Ein Gespräch mit Dr. Bernd Fabritius, dem Präsidenten des Bundes der Vertriebenen (BdV)

Der Jurist und Rechtsanwalt Dr. Bernd Fabritius (geb. am 14. Mai 1965 in Agnita/Agnetheln in Rumänien) ist seit 2014 Präsident des Bundes der Vertriebenen (BdV), außerdem seit 2007 Präsident der Föderation der Siebenbürger Sachsen und seit der neuen Regierungsbildung Beauftragter der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten. – Die Fragen stellten Christof Dahm und Burkhard Haneke.

Der Bund der Vertriebenen (BdV) wurde 1957 gegründet, besteht also inzwischen seit über 60 Jahren. Hinsichtlich der Mitglieder ist inzwischen der Übergang von der Erlebnis- zur Bekenntnisgeneration erfolgt. Auch das Bild der Vertriebenen in Deutschland und in Mittel- und Osteuropa hat sich im Laufe der Jahrzehnte gewandelt: Galten sie lange Jahre als rückwärtsgewandt und wurden sie hier wie auch in den ehemaligen Heimatländern oft als „Revanchisten“ verunglimpft, werden sie inzwischen in der Öffentlichkeit viel differenzierter gesehen. Gerade Vertriebene haben sehr früh erste Brücken in die alte Heimat geschlagen und die Hand zur Versöhnung ausgestreckt. Bereits in ihrer Charta von 1950 haben die deutschen Heimatvertriebenen sich verpflichtet, an der Schaffung eines „freien und geeinten Europas“ mitzuwirken. Welche gesellschaftliche und politische Rolle können die Nachkommen der Vertriebenen in den kommenden Jahrzehnten in einem Europa, dessen Integration derzeit stark angefochten wird, einnehmen?

Dr. Bernd Fabritius (Foto: privat)

Das Argument, das Sie in der Frage genannt haben, dass Vertriebene und ihre Verbände als „Revanchisten“ beschimpft worden sind, ist natürlich ein Punkt, den zum Beispiel auch der frühere Bundespräsident Gauck in seinen Reden zum Gedenktag 2015 und beim Tag der Heimat 2016 aufgegriffen hat. Man hat Vertriebene zuerst sehr stark als einfache Kriegsopfer angesehen und das Sonderopfer, das in diesen biographischen Schicksalen steckt, verdrängt. Sie waren nicht übliche Kriegsopfer, weil ja ganze Zivilgesellschaften nach dem Krieg, zu Friedenszeiten, vertrieben wurden und nicht nur die Soldaten oder die Wehrmachtsangehörigen im Kriegsgeschehen. Das Schicksal, das sie erlitten haben, hat sie in ihrer kompletten, kollektiven Existenz betroffen. Wenn man die Heimat verliert, dann verliert man ein Stück der eigenen Identität bis hin zur Familiengeschichte. Die Charta der Heimatvertriebenen1 hat bereits 1950 geklärt, dass es nicht um Revanchismus geht. Ganz im Gegenteil: Man hat diesem sofort abgesagt, man hat in der Charta eine Verpflichtung zu einem gemeinsamen Europa im Sinne der Verständigung und der Versöhnung proklamiert. Ich würde sogar so weit gehen und sagen, dass die Charta der Heimatvertriebenen eines der ältesten Dokumente europäischer Verständigungsarchitektur ist.

Stichwort „Zukunft“: Natürlich ist der Bund der Vertriebenen mit seiner Tätigkeit nicht rückwärtsgewandt und auch nicht selbstreferenziell nur auf die Gegenwart bezogen, sondern er hat vor allem zukunftsorientierte Interessen. Wichtige Punkte sind z. B. die Brücke in die Heimat, in die Herkunftsgebiete, Kulturgutsicherung und Erinnerungstransfer. Die Brückenfunktion als vielleicht unerwartete Perspektive wurde durch die Charta ermöglicht, und so zeigt sich heute, dass die Heimatvertriebenen, die ja sehr viel Erfahrung auch im multi-ethnischen Zusammenleben haben, gerade in der aktuellen europäischen Situation die prädestinierten Brückenbauer in ihre Herkunftsgebiete und auch innerhalb unserer Gesellschaft sind.

Der Auftrag, das historische und kulturelle Erbe der Deutschen aus den historischen deutschen Ost- und Siedlungsgebieten zu bewahren und weiter zu geben, ist in § 96 des Bundesvertriebenenförderungsgesetzes (BVFG) festgeschrieben. Wie kann diese Aufgabe angesichts immer knapper werdender öffentlicher Mittel auch in Zukunft erfüllt werden?

Es nicht allein Aufgabe der Vertriebenen, die Kultur ihrer Heimatregionen am Leben zu erhalten, sondern es ist eine gesamtdeutsche Aufgabe, die der von Ihnen zitierte § 96 BVFG in die Zuständigkeit des Bundes und (!) der Länder verweist. Denn man hat erkannt, dass, um ein Beispiel zu nennen, z. B. auch die schlesische Kultur Teil des gesamtdeutschen Erbes ist und die wichtige Aufgabe der Erhaltung und Rettung dieser Kultur nicht allein den Schlesiern überlassen werden darf. Deswegen ist geregelt, dass ausreichend Mittel zur Verfügung gestellt werden müssen, die nicht nur statisch die Bewahrung – etwa durch „Musealisierung“ –, sondern auch die Pflege, Vermittlung und Weiterentwicklung dieser Kultur ermöglichen.

Hier geht es nicht um ein abzuwickelndes, rückwärtsgewandtes Themenfeld, sondern ganz im Gegenteil um eine zukunftsorientierte, identitätsbezogene und auf kulturelle Brückenschläge ausgerichtete Finanzierungsnotwendigkeit. Wir haben nach dem Kahlschlag der „Schröderzeit“ inzwischen wieder die Förderhöhe zu Zeiten Helmut Kohls für diesen Bereich erreicht. Etwa 25 Millionen Euro sind für diesen Bereich in der letzten Wahlperiode aufgewendet worden. Das ist immer noch viel zu wenig – die Bundesrepublik Deutschland gibt im Moment für den gesamten Bereich „Kultur der deutschen Heimatgebiete“ etwa so viel aus wie die Stadt Krefeld für ihr städtisches Theater. Wenn man diesen gesamten Kulturbereich seiner Bedeutung entsprechend fördern wollte, wäre mindestens eine Verdoppelung erforderlich.

Seit den 1980er Jahren, besonders seit den großen Umwälzungen seit 1989/90 sind viele Spätaussiedler nach Deutschland gekommen, deren Schicksal ähnlich – und doch anders – verlaufen ist als das der Vertriebenen der ersten Nachkriegszeit; auch Sie selbst zählen dazu. Wo sehen Sie besondere Probleme, aber auch Chancen der Spätaussiedler im Blick auf ihre Lage in Deutschland, aber auch im Verhältnis zu ihren Heimatgebieten?

Ich nenne zuerst einige Chancen, die Spätaussiedler aufgrund ihrer doppelten kulturellen Identität haben. Bei den Russlanddeutschen ist das vielleicht am offenkundigsten. Diese wissen z. B., wie die russische Gesellschaft denkt, und sind damit die prädestinierten „Brückenbauer“ und „Russlanderklärer“, alles mit den nötigen Anführungszeichen. Hier liegen ganz eindeutig riesige Chancen für die europäische Integration. Es gibt außerdem einen Bereich, wo wir gerade seit 2015 eine Expertise benötigen, auf die wir gerade bei Spätaussiedlern zurückgreifen können, und zwar im Bereich der Integration. Wenn ich auf die Flüchtlingsproblematik der letzten drei, vier Jahre blicke, dann sehe ich bezüglich der Integration von aktuellen Spätaussiedlern, die auch aus einem inzwischen fremden Kulturbereich zu uns gekommen sind, in Teilen vergleichbare Integrationsherausforderungen. Es gibt zwar noch wesentliche Unterschiede, etwa in der Sprachaffinität und der Kulturkreisverbundenheit, aber man kann auch Synergieeffekte feststellen, und der BdV nutzt diese ganz aktiv. Wir betreiben in zehn Bundesländern 16 hauptamtliche Migrationsberatungsstellen, in denen wir nicht nur Deutschen aus Kasachstan, um ein Beispiel zu nennen, Ersthilfe bieten, sondern auch zum Beispiel Menschen, die aus Syrien fliehen mussten. Etwa die Hälfte der Ratsuchenden und der Betreuten unserer Migrationsberatung sind aktuell Flüchtlinge.

Aber natürlich gibt es in der heutigen Zeit bei den Spätaussiedlern auch Probleme, mit denen die Vertriebenen seinerzeit nichts zu tun hatten. Ich fange mit einem ganz praktischen Beispiel an: Die Anerkennung der ausländischen Berufs- und Bildungsabschlüsse ist schlecht oder gar nicht geregelt bzw. insgesamt defizitär. Beispiel Berufsbildungsabschlüsse: Wenn ein Schlosser mit einem Schlossermeister-Zeugnis der IHK Aussig oder Karlsbad nach dem Krieg nach Deutschland kam, dann war sein Zeugnis absolut verwendbar. Man hat es lesen können, man hat gewusst, um was es geht, es stand für eine identifizierbare Berufsbiographie. Das ist heute bei Spätaussiedlern nicht mehr so. Wenn etwa jemand aus Kasachstan mit einem Schlosserzeugnis kommt, dann ist dies nicht eins zu eins auf dem deutschen Arbeitsmarkt einsetzbar; nicht nur, weil man es gar nicht lesen kann, sondern auch, weil der Inhalt dortiger Ausbildungsgänge nicht immer mit unseren vergleichbar ist und die Berufserfahrung nicht eins zu eins umsetzbar ist und die beruflichen Biographien und Herausforderungen ganz andere sind. Hier hat man zwar schon viel getan, es gibt gewisse Mechanismen der Umschreibung und der Anerkennung von Berufs- und Ausbildungsabschlüssen, aber hier bleibt doch noch ein Problem, das wir lösen müssen.

Ein weiterer problematischer Aspekt ist die zunehmende Altersarmut in diesem Personenkreis. Hier hat die Politik Fehler gemacht. Zuerst hat man zutreffend aufgrund des Kriegsfolgeschicksals und aufgrund des Gleichstellungsprinzips die Berufsbiographien aus dem Herkunftsgebiet auch in der Sozialversicherung gleichgestellt. Vereinfacht gesagt: Man hat einerseits die Beitragszeiten der Zahlergeneration voll vereinnahmt und im Gegenzug Rentenzeiten aus dem Herkunftsgebiet für die Rentnergeneration eins zu eins anerkannt. Jemand, der nach 40 Jahren Arbeit im Vertreibungsgebiet kurz vor der Rente vertrieben wurde, hat in Deutschland trotzdem eine Rente bekommen. Das hat man dann 1996 nach einer ungerechten Neiddebatte drastisch geändert, und zwar durch eine pauschale Kürzung um etwa 50 Prozent, was dazu führte, dass ein deutscher Spätaussiedler selbst nach einem erfüllten Arbeitsleben und einer vollen Berufsbiographie bei einer Rente unterhalb der Armutsgrenze und im Bereich der Grundsicherung landet. Das ist eine empfundene und auch eine echte Altersarmut, die zu unglaublicher Frustration führt.

Erlauben Sie noch einen Blick auf aktuelle Kommunikationsprobleme und Brüche in der Europäischen Union. Vielfach wird ja sogar von einer „Krise Europas“ gesprochen. Wie lassen sich Ihrer Meinung nach die deutlich gewordenen Differenzen zwischen den Positionen verantwortlicher Politiker in Deutschland und den mittel- und osteuropäischen Staaten überwinden?

Ich würde auch von einer Krise Europas sprechen. Aus meiner Sicht ist diese hauptsächlich dadurch gekennzeichnet, dass es eine Zunahme von Nationalismen in Europa gibt. Wenn ich die Entwicklungen betrachte, etwa den Brexit, die Position Polens oder Ungarns am rechten Rand betrachte und auch einige Töne aus Rumänien hinzunehme, dann gibt es hier durchaus eine starke Fokussierung auf eigene Positionen, auf eigene Egoismen, die durch die Zunahme eines sehr ausgeprägten, überzogenen Nationalgefühls geprägt sind. Damit einher geht die Vernachlässigung des Solidaritätsgedankens, der ja Europa eigentlich definiert. Europa ist zuerst einmal ein großes Friedensprojekt, und danach ist es ein Solidarprojekt, und beide Gedanken sind aus meiner Sicht in der letzten Zeit leider etwas zu kurz gekommen.

Wie kann es weitergehen? Wenn man in dem kulturell heterogenen Umfeld Europas zu einem Status Quo kommt, in welchem die kulturelle Autonomie und das Selbstbewusstsein einer jeden europäischen Nation geachtet werden, aber Einzelinteressen auch einmal dem Gemeinschaftsziel untergeordnet werden, und wenn wir wieder zu einem solidarischen Blick auf Europa und auf gemeinsame Ziele kommen, dann könnten wir wieder zu der europäischen Idee zurück finden, die einmal unsere Grundlage gewesen ist. Ich nenne das nicht „Europe first!“, sondern „Together in Solidarity“. Man kann das in allen Bereichen des Staates feststellen. Wenn ich sehe, was da in unterschiedlichsten Ländern passiert, dann bestätigt das meine Annahme, dass manche Länder ihr Demokratie-, Staats- und Rechtssystem durch rein nationale Brillen betrachten. Damit werden natürlich auch allgemein freiheitliche Werte eingeschränkt, das ist dann ein Punkt, der uns Sorgen machen muss. Wenn wir fokussiert daran arbeiten, damit es wieder ein größeres Miteinander gibt, dann könnte das Ganze doch noch etwas werden.


Fußnote:


  1. Der Text der Charta vom 5. August 1950 steht unter http://www.bund-der-vertriebenen.de/charta-der-deutschen-heimatvertriebenen/charta-in-deutsch.html zum Download zur Verfügung (auch in englischer, polnischer, tschechischer, rumänischer und russischer Sprache). ↩︎