Kreml: Neue Gesprächsbereitschaft mit Kiew

aus OWEP 2/2020  •  von Gemma Pörzgen

Gemma Pörzgen (geb. 1962 in Bonn) ist freie Journalistin mit Osteuropa-Schwerpunkt. Sie arbeitet in Berlin als Autorin und Moderatorin, aber auch in der Redaktion von Deutschlandfunk Kultur. Davor war sie als Auslandskorrespondentin für verschiedene Zeitungen in Belgrad und Tel Aviv tätig. Seit April 2020 ist sie die verantwortliche Redakteurin von OST-WEST. Europäische Perspektiven.

Zusammenfassung

Nach fünf Jahren Krieg in der Ostukraine sieht die Kremlführung nach dem Machtwechsel in Kiew neue Chancen. Seit dem Amtsantritt des neuen ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj kam es 2019 zu einigen Fortschritten in dem schwierigen Verhältnis der beiden Nachbarstaaten.

Nach der Wahl Wolodymyr Selenskyjs zum neuen Präsidenten in der Ukraine wartete die Moskauer Führung Ende April 2019 noch nicht einmal dessen Amtseinführung ab, um den politischen Neuling sofort auf die Probe zu stellen. Statt eines Glückwunsches kam aus Moskau gleich eine Provokation: Russlands Präsident Wladimir Putin unterzeichnete einen Erlass, der es den Bewohnern der besetzten Gebiete in der Ostukraine möglich machen sollte, auf „vereinfachte Weise“ russische Pässe und damit die Staatsbürgerschaft der Russischen Föderation zu erhalten. „Es ist ganz offensichtlich, dass diese kleine Schikane (statt einer Gratulation) das typische nervöse Zucken eines Mannes ist, der voller Schwermut erschreckt nach Luft schnappt vor Neid auf einen, der mehr als 70 Prozent der Stimmen bekommen hat, und zwar ohne den Einsatz einer riesigen Propagandamaschine, ohne Unterdrückung und Betrug“, kommentierte der frühere Jelzin-Berater Georgij Satarow auf Facebook das russische Vorgehen.1

Russland zementiere seine Rolle als „Aggressor“, antwortete Selenskyj schnell. Als Putin nochmal nachlegte und sogar die russische Staatsbürgerschaft für sämtliche Ukrainer in Erwägung zog, reagierte das neu gewählte Staatsoberhaupt mit einer ironischen Replik: Er wolle allen Völkern die ukrainische Staatsbürgerschaft verleihen, die „unter autoritären und korrupten“ Regimen leiden – also „in erster Linie Russen“.

Anzeichen für einen Wandel

Neben diesem ersten Schlagabtausch zwischen Putin und Selenskyj kamen aus Moskau auch andere Signale, die bereits auf einen möglichen Wandel hindeuteten: So schrieb der russische Ministerpräsident Dmitri Medwedjew unmittelbar nach Selenskyjs Wahlsieg auf Facebook, es bestehe jetzt „eine Chance, die Zusammenarbeit mit unserem Land zu verbessern.“ Er empfahl der neuen Führung in Kiew, die Probleme des Landes „mit Rücksicht auf die tiefe Verbundenheit des russischen und ukrainischen Volkes“ anzugehen.

Während der frühere ukrainische Präsident Petro Poroschenko einen Friedensprozess jahrelang blockiert hatte, setzte Selenskyj schon im Wahlkampf auf ein Friedens-Versprechen. In Russland wurde das aufmerksam registriert, denn auch dort wünschen sich Teile des politischen Establishments inzwischen eine Wiederannäherung an das Nachbarland.

Tatsächlich entstand seit dem Amtsantritt Selenskyjs eine neue Dynamik. Da erklang aus Kiew ein ganz anderer Umgangston und das von einem Mann, der auch in Russland seit Jahren als Fernsehstar Popularität genoss. Selenskyj war früher einmal Moderator im russischen TV-Sender Rossija und auch als Schauspieler in zahlreichen Filmen zu sehen. Damit gab es also für die Moskauer Führung einen neuen Verhandlungspartner in Kiew, um die Minsker Waffenstillstandsvereinbarungen weiter umzusetzen. Mit Amtsvorgänger Poroschenko und dessen Außenminister Pawlo Klimkin galt das bislang als aussichtslos. Diplomaten berichten, dass auch der persönliche Umgang der beiden Seiten völlig vergiftet schien und sich in Streitereien entlud – und das, obwohl Klimkin aus dem russischen Kursk stammt und in Moskau studiert hat.

Telefonat zwischen Selenskyj und Putin

Deutliches Signal einer neuen Gesprächsbereitschaft war das erste Telefonat zwischen Selenskyj und Putin im Juli 2019, bei dem nach Angaben regierungsamtlicher Medien über die Lage im Donbass-Krieg gesprochen wurde. Der ukrainische Präsident Selenskyj hatte wenige Tage zuvor eine Videobotschaft veröffentlicht, in der er den russischen Staatschef aufforderte, über die Situation in der Ukraine zu sprechen: „Ich möchte an den russischen Präsidenten Wladimir Putin appellieren. Wir müssen miteinander reden“, hieß es darin. In Moskau wurde das offenbar ähnlich gesehen.

Der Bonner Politologe Andreas Heinemann-Grüder sieht darin keine Zäsur, sondern spricht lieber von einem „evolutionären Prozess“.2 Zur russischen Motivation sagt er: „Der Ukraine-Krieg hat als Ressource für die innenpolitische Mobilisierung mittlerweile ausgedient.“

Wachsende Bedeutung der Innenpolitik

Dazu passt, dass die in Moskau ansässige Denkfabrik „Carnegie“ schon 2017 schrieb, die Russen wünschten, dass ihre Regierung sich stärker auf innenpolitische Themen konzentriere. Nachdem Russland nun dank der Putinschen Außenpolitik „wieder groß“ geworden sei, sollte sich die politische Führung wieder mehr um die heimische Wirtschaft und soziale Themen kümmern. „Der Euphorie-Effekt von 2014 nach der Übernahme der Krim von der Ukraine hat sich langsam verbraucht.“3

Während die Annexion der Krim bis heute breite Unterstützung in der russischen Bevölkerung findet und eine Rückgabe an die Ukraine unvorstellbar ist, gibt es vergleichsweise wenig Sympathie für das weitere Schicksal der „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk in der Ostukraine. Nach einer Umfrage des unabhängigen Levada-Instituts aus Moskau befürwortete 2019 nur noch rund ein Viertel der Russen eine Angliederung der „Volksrepubliken“ an die Russische Föderation. Vor fünf Jahren waren es mit 48 Prozent sehr viel mehr Befürworter.

Sichtbare Fortschritte

Blickt man auf die Ereignisse des Jahres 2019, ist einiges geschehen: Im September 2019 wurden 70 Gefangene ausgetauscht, 35 auf jeder Seite. Freigelassen wurde unter anderem auch der prominente ukrainische Regisseur Oleh Senzow.

Auf russischer Seite fiel der Empfang am Moskauer Flughafen Wnukowo relativ nüchtern aus. Nur Journalisten des Staatsfernsehens warteten auf die Freigelassenen. Besonderes Interesse galt vor allem dem früheren Leiter des Ukraine-Büros der staatlichen Nachrichtenagentur RIA und ihrer Dachorganisation Rossija Segodnja, Kirill Wyschinski, der 2018 wegen vorgeblichen Staatsverrats von den ukrainischen Behörden festgenommen worden war. Im November gab Russland der Ukraine auch drei Marineschiffe zurück, die die russische Küstenwache ein Jahr zuvor in der Straße von Kertsch beschlagnahmt hatte.4

Anfang Dezember kam es nach rund drei Jahren erstmals wieder zu einem Gipfel im Normandie-Format. Die Initiative ging von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron aus, der Bundeskanzlerin Angela Merkel, Putin und Selenskyj nach Paris einlud. Dabei wurde unter anderem vereinbart, die Waffenruhe bis Ende 2019 vollständig umzusetzen. Beschlossen wurde auch ein weiterer Gefangenenaustausch bis Ende des Jahres und die Einrichtung neuer Übergangspunkte an der Grenze zwischen den besetzten Gebieten und dem von Kiew kontrollierten Gebiet. Putin lobte die Gipfelbeschlüsse als Fortschritt für die Menschen in der Ostukraine und sprach von einem Tauwetter zwischen Russland und der Ukraine.

Beim Pariser Gipfel wurde deutlich, dass die Risiken eher bei Selenskyj lagen, dem in der Heimat vorgeworfen wird, er könnte Moskau zu weit entgegen kommen. Putin ist da in einer komfortableren Ausgangsposition, denn eine Annäherung an die Ukraine wirkt zu Hause so, als sei bisher vor allem Poroschenko das Haupthindernis gewesen.

Die Lüge von Russland als Vermittler

Die Verhandlungsgrundlage des russischen Präsidenten ist unverändert das Minsker Abkommen vom Februar 2015. Es sieht für die besetzten Gebiete in der Ostukraine nur eine weitläufige Autonomie innerhalb der Ukraine vor. Ein Knackpunkt ist vor allem, dass dort zunächst Regionalwahlen nach russischen Regeln stattfinden sollen, was die dortigen Machtverhältnisse und den Einfluss der Separatisten festigen dürfte. Die Gefahr ist groß, dass Putin in Selenskyj nur eine Möglichkeit sieht, seine strategischen Ziele jetzt noch besser umzusetzen.

Dazu passt, dass Russland sich selbst bis heute nicht als eigenständigen Akteur im Ukraine-Krieg sieht, sondern nur als Konfliktvermittler. Die militärische Auseinandersetzung wird nach dieser Logik auch nicht wie in Kiew als Krieg zwischen zwei Staaten (Russland und Ukraine) gesehen, sondern als „ukrainischer Bürgerkrieg“. Die Moskauer Korrespondentin der Wochenzeitung „DIE ZEIT“, Alice Botha, weist deshalb in ihrer Berichterstattung zu Recht auf „die Lüge“ hin, „dass der Krieg in der Ostukraine, an dem Russland beteiligt ist, kein richtiger Krieg zwischen zwei Staaten sei.“ Auch der Vertrag von Minsk enthalte diese „grobe Unwahrheit“, denn Putin komme darin als Akteur gar nicht vor: „Mit dem Krieg in der Ukraine, den das Abkommen beenden sollte, hat er scheinbar nichts zu tun“, schreibt Botha.5 „Putin steht nicht als Kriegsherr da, der Soldaten und Waffen schickt, sondern als Vermittler. Wenn aber eine Kriegspartei vorgibt, Vermittler zu sein, und ein Krieg nicht erklärt wird – wann gilt ein solcher Krieg als gewonnen, wann als verloren? Wann als beendet?“

Wie vereinbart kam es zum Ende 2019 zu einem weiteren Gefangenenaustausch von rund 200 Personen zwischen den Separatisten in der Ostukraine und der ukrainischen Seite.

Personalwechsel im Kreml

Zu dieser Entwicklung passt auch, dass Putin zum Jahresbeginn 2020 den früheren Vize-Premier Dmitrij Kosak zum stellvertretenden Leiter der Präsidialverwaltung ernannte, der nun auch für die Ukraine-Politik verantwortlich sein soll. Damit löste er den ideologischen Hardliner Wladislaw Surkow ab. Er galt als politischer Chefideologe und Strippenzieher für die Separatisten in der Ostukraine und stand im offenen Konflikt zu der Regierung in Kiew. Kosak, der in der ukrainischen Region Kirowohrad geboren wurde, war schon 2019 an den Ergebnissen der bisherigen Verhandlungen beteiligt, so dem Gefangenenaustausch, den Truppenentflechtungen und der Verlängerung des Ende 2019 ausgelaufenen Gastransitvertrages zwischen der Ukraine und Russland.

Innerhalb der russischen Regierung zählt Kosak zum wirtschaftsliberalen Flügel. Dieser blickt skeptisch darauf, den Donbass-Krieg fortzusetzen, und hofft auf ein Ende der westlichen Sanktionen. Allerdings ist Kosak auch als Chefideologe einer Föderalisierung der Republik Moldau bekannt geworden und könnte eine vergleichbare Strategie auch in der Ukraine umsetzen wollen.

Auffallend abgenommen hat die anti-ukrainische Propaganda in den staatsgelenkten Medien, die seit dem Ausbruch des Konflikts mit der Ukraine eng mit der politischen Agenda verzahnt war. In den russischen Staatsmedien, vor allem im Fernsehen, gab es seit 2014 eine Flut von Berichten, die das Nachbarland als gescheiterten, korrupten Staat darstellten und den Einfluss westlicher Staaten, vor allem der US-Regierung auf die politische Entwicklung in Kiew betonten. Putin hatte den Ton auf einer Pressekonferenz am 4. März 2014 gesetzt, auf der er die Ereignisse in Kiew als „verfassungswidrigen Umsturz und gewaltsame Machtergreifung“ darstellte. Nach russischer Lesart hatte die neue ukrainische Führung damit keine Legitimation und wurde in der russischen Öffentlichkeit ständig als „faschistisches Regime“ denunziert.

Auch wenn dieser Grundtenor keineswegs aus den Politikerreden und den russischen Staatsmedien ganz verschwunden ist, fällt doch auf, dass der Stellenwert sich deutlich verschoben hat. Einzelereignisse wie die Wahl Selenskyjs, das Normandie-Treffen in Paris oder der Gefangenenaustausch stoßen in den Medien weiter auf Aufmerksamkeit, aber politisch sind in Russland heute andere Themen und vor allem die Innenpolitik viel wichtiger. Putin bereitet das Land auf das Ende seiner Amtszeit 2024 vor.

Da passt es der Kremlführung gut, dass auch international der Ukraine-Krieg inzwischen längst aus den Schlagzeilen verschwunden ist. Die Kampfhandlungen gehen weiter, aber kleinere Scharmützel haben die großen Gefechte schon längst abgelöst. Eine gewisse Beruhigung ist in Russlands Interesse, um die westlichen Sanktionen möglichst schon 2020 loszuwerden. Aber als schwelender Konflikt, der die Ukraine weiterhin schwächt und eine NATO-Mitgliedschaft des Landes dauerhaft verhindern dürfte, bleibt er für die Kremlführung nützlich. Die Gefahr ist groß, dass die Lage in der Ostukraine sich als so genannter „eingefrorener Konflikt“ etabliert, wie man das bereits von Abchasien und Südossetien im Südkaukasus kennt. Weltpolitisch spielt die russische Einflussnahme auf die zu Georgien gehörenden Regionen keine Rolle mehr und die schwierige Lage der Menschen dort ist längst so gut wie vergessen.


Fußnoten: