Krieg im Donbass: Selenskyjs Friedensoffensive polarisiert die Ukraine

aus OWEP 2/2020  •  von Denis Trubetskoy

Denis Trubetskoy (geb. 1993 in Sewastopol auf der Krim) arbeitet seit 2015 von Kiew aus als freier Ukraine-Korrespondent für deutschsprachige Medien. Zuvor hat er Fernsehjournalistik an der Filiale der Lomonossow-Universität Moskau in Sewastopol studiert.

Zusammenfassung

Seit fast sechs Jahren setzen sich im ostukrainischen Industriegebiet Donbass die Kämpfe zwischen der ukrainischen Armee und den prorussischen Separatisten fort. Dabei sind bisher rund 13.000 Menschen ums Leben gekommen. Seit dem Amtsantritt des neuen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj haben sich die Friedensbemühungen der Ukraine verstärkt, anders als zuvor werden nun Gefangenenaustausche und Truppenentflechtungen durchgeführt. Doch nicht alle finden seine Friedenspolitik gut – und das Minsker Friedensabkommen bleibt für Kiew in seiner heutigen Form unannehmbar.

Fünf Jahre nach der Unterzeichnung des Minsker Friedensabkommens zum Krieg in der Ostukraine ist vom Frieden an der Frontlinie im Donbass wenig zu spüren. Zwar hat sich die militärische Auseinandersetzung seit Februar 2015, als die Staats- und Regierungschefs Deutschlands, Frankreichs, Russlands und der Ukraine über Nacht im belarussischen Minsk den Friedensvertrag aushandelten, eben auf diese Frontlinie reduziert. Seither ist es nicht mehr so, dass man in Großstädten wie Donezk und Luhansk, die sich anders als das ebenfalls im Donbass liegende Mariupol unter Kontrolle der prorussischen Separatisten befinden, ständig den Beschuss mitbekommt – vor Februar 2015 war dies anders. Und dennoch liegt die Opferzahl des Donbass-Krieges nach UN-Angaben bereits bei mehr als 13.000 Menschen. So sind auch im Januar 2020 etwa nach offiziellen ukrainischen Angaben elf ukrainische Soldaten ums Leben gekommen, 33 weitere wurden verletzt.

Obwohl im Alltag in der Hauptstadt Kiew oder in weiteren wichtigen Städten wie Lwiw oder Odessa schnell der Eindruck entsteht, der Krieg sei doch weit weg, irrt dieser. Auf dem von der Ukraine offiziell kontrollierten Gebiet sind derzeit offiziell rund 1,5 Millionen Binnenflüchtlinge aus dem Donbass sowie von der von Russland annektierten Krim-Halbinsel registriert. Auch sind darüber hinaus viele Familien direkt betroffen, sei es durch die Verwandtschaft, wirtschaftliche Interessen oder etwa durch die Einberufung der Söhne in die ukrainische Armee. Und so überrascht es kaum, dass laut einer Umfrage des unabhängigen Soziologie-Instituts Rating Group der Frieden im Donbass für 64 Prozent der Ukrainer die Schlüsselforderung an den im Mai 2019 angetretenen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj ist.

Kiew übernimmt Verantwortung

„Wir sollten uns mit Russland einfach irgendwo in der Mitte treffen“, betonte der Ex-Schauspieler, Filmproduzent und Komiker Selenskyj, der den ukrainischen Präsidenten bereits in der Satire-Serie „Diener des Volkes“ gespielt hat, im Dezember 2018 noch vor der Verkündung seiner Präsidentschaftskandidatur in einem Interview mit dem Journalisten Dmytro Gordon. Dieser etwas naive Blick auf den Krieg in der Ostukraine wurde von Selenskyj nicht mehr wiederholt. Und dennoch ist er nicht zuletzt wegen seiner Friedensrhetorik ins Präsidentschaftsamt gewählt worden. Im Gegensatz zu seinem Gegner, dem Ex-Präsidenten Petro Poroschenko, versuchte es Selenskyj, auf die Einigung des ganzen Landes zu setzen, während sich sein Vorgänger im Laufe seiner Amtszeit stark gewandelt hat. Aus einem moderaten Politiker, der durchaus für Kompromisse im Donbass bereit war, wurde ein ausgesprochener Patriot, der für seine nationalliberale Politik den Slogan „Armee! Sprache! Glaube!“ auswählte.

Poroschenko mobilisierte zwar vor allem in der Westukraine Wählerstimmen, was trotz vorerst katastrophaler Umfragewerte den Einzug in die Stichwahl gegen Selenskyj überhaupt möglich machte. Doch der Diskurs schloss einfach zu viele Menschen aus der gesamtukrainischen Erzählung aus, daher war der immerhin für mehrere Beobachter überraschende Wahlsieg Selenskyjs quasi vorprogrammiert. Jedoch reicht es nicht, nur den Frieden zu versprechen, es müssen auch konkrete Schritte her. An der Initiative von der ukrainischen Seite fehlte es hier tatsächlich nicht. Unter Selenskyj übernimmt die Ukraine viel mehr Verantwortung als in den letzten Poroschenko-Jahren, dies ist eindeutig als ein gutes Zeichen für den Frieden wahrzunehmen. Trotzdem wird es umso deutlicher, dass der Schlüssel zur Lösung des Donbass-Krieges nicht in Kiew, sondern vor allem in Moskau, konkret gesagt im Büro des russischen Präsidenten Wladimir Putin liegt. Diese Tatsache wird auch für den einst überoptimistischen Wolodymyr Selenskyj immer offensichtlicher.

Seine Friedensoffensive begann Selenskyj im Sommer 2019, als die Ukraine sich plötzlich dafür entschieden hatte, gemäß einer Vereinbarung von 2016 die Truppen an einem der drei damals ausgemachten kleineren Orte an der Frontlinie im Bezirk Luhansk zu entflechten. Die Vorzeichen standen nicht besonders gut. Schließlich fing Russland wenige Tage nach dem Wahlerfolg Selenskyjs an, russische Pässe an Bewohner der beiden von prorussischen Separatisten kontrollierten selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk zu verteilen. Mit Stand vom Januar 2020 haben bereits rund 170.000 Donbass-Bewohner nach der erleichterten Prozedur einen russischen Pass erhalten. Ein besonders freundliches „Geschenk“ an Selenskyj war das sicher nicht – und dennoch zeigte sich die Ukraine risikobereit, ohne jegliche Garantien dafür zu haben, dass auch die Separatisten sich an die Vereinbarungen halten. Schließlich ist es 2019 gelungen, an allen drei Orten beidseitig Truppen abzuziehen. Allerdings läuft die Abstimmung weiterer Entflechtungsorte äußerst kompliziert, und auch dort, wo die Truppen bereits abgezogen wurden, bleibt es nicht immer ruhig.

Opposition kritisiert Gefangenenaustausche

Zu weiteren wichtigen Punkten gehören sicherlich die Gefangenenaustausche. Zum vorerst letzten Mal haben die Ukraine und die Volksrepubliken Donezk und Luhansk Gefangene noch Ende 2017 ausgetauscht. Seitdem funktionierte der Verhandlungsprozess de facto nicht. 2019 hat sich dies geändert. Zunächst fand im Herbst ein direkter Austausch zwischen der Ukraine und Russland statt. Dabei kehrte auch der in Kiew zum Volkshelden aufgebaute Filmregisseur Oleh Senzow, auf der annektierten Krim wegen der angeblichen Vorbereitung eines terroristischen Aktes festgenommen und zu 20 Jahren Haft in einer Kolonie am Polarkreis verurteilt, in die Ukraine zurück.

Ganz am Jahresende ging dann der Austausch zwischen Kiew und den Separatisten über die Bühne. In beiden Fällen musste sich die Ukraine auf extreme Kompromisse einlassen. Ein wichtiger Zeuge des Absturzes des Malaysia-Airlines-Fluges MH17 über den Donbass im Sommer 2014 und Mitglieder der während der Majdan-Revolution 2014 gegen die Demonstranten in Kiew eingesetzten Spezialeinheit Berkut (Steinadler) der ukrainischen Polizei wurden übergeben – eine Entscheidung, die nach wie vor die Menschen polarisiert.

„Mir ist es persönlich egal, wen wir austauschen, solange wir unsere Leute zurück zu uns und zu ihren Familien holen“, sagt Präsident Selenskyj dazu. Die Mehrheit der Ukrainer scheint mit dieser Aussage einverstanden zu sein. Doch das Gesellschaftsbild des Landes ist in Wirklichkeit viel komplizierter. In der Stichwahl bekam Selenskyj 73,22 Prozent der Stimmen – und diese Menschen sind mit der Friedenspolitik des Präsidenten grundsätzlich zufrieden. Wenn aber doch nicht, dann eher nicht aus dem Grund, dass sie falsch ist, sondern weil Selenskyj zu wenig macht. Allerdings wird die Agenda zwischen den Wahlen vor allem vom politisch aktiven Teil der Gesellschaft gemacht, der meist hinter der nationalorientierten Linie von Petro Poroschenko steht. Dieser lehnt Kompromisse in Sachen Donbass ab und kann in der Hauptstadt Kiew schnell die Straße mobilisieren. Das macht die ohnehin schwierigen Entscheidungen zur Ostukraine für Selenskyj nicht leichter.

Der Preis, den die Ukraine für die Gefangenenaustausche zahlen musste, wurde aus diesem Lager scharf kritisiert. Selbst Oleh Senzow, der ja auch davon profitiert hat, äußerte große Skepsis. Ein Gefangenenaustausch als Protestthema funktioniert aber in der Regel nicht so gut. Selbst die Kritiker sehen sich gezwungen, Freude darüber zu zeigen, dass die Ukrainer nach Hause zurückgekehrt sind. Anders sieht es mit den eigentlichen Donbass-Verhandlungen aus. Als es im Dezember 2019 zum ersten Normandie-Gipfel zwischen den Staats- und Regierungschefs der Unterzeichner des Minsker Abkommens seit 2016 kam, haben vor allem Nationalisten direkt vor den Türen des Präsidentenbüros von Selenskyj ein ganzes Zeltlager aufgebaut. Die Forderung: keine „roten Linien“ beim Gipfel in Paris zu überqueren.

Minsker Abkommen für die Ukraine inakzeptabel

Der Knackpunkt hier ist das Minsker Abkommen selbst. Unter realer Gefahr des Ausbruchs eines großen Krieges im Februar 2015 unterschrieben, ist dieses für die Ukraine unglücklich. Laut dem Dokument sollen im von Separatisten besetzten Teil des Donbass Kommunalwahlen abgehalten werden. Diese sollen auch nach ukrainischen Gesetzen und gar unter Beobachtung der OSZE stattfinden, doch das eigentliche Problem besteht darin, dass die Separatisten das Territorium de facto am Wahltag noch kontrollieren werden. Die Übergabe der Kontrolle über die ukrainisch-russische Grenze im Donbass erfolgt dem Abkommen zufolge erst am Tag nach den Wahlen. Unter diesen Bedingungen ist eine freie Meinungsäußerung unwahrscheinlich und eine Mehrheit für prorussische Kräfte kaum zu verhindern, zumal die meisten klar proukrainischen Menschen die Region bereits verlassen haben. Die mögliche Zustimmung für diese Bedingungen gilt als die größte „rote Linie“ für Selenskyj.

Grund dafür ist die Tatsache, dass der besetzte Teil des Donbass gemäß des Minsker Abkommens nach der erfolgreichen Abhaltung der Kommunalwahlen einen weit ausgelegten Sonderstatus innerhalb der Ukraine bekommen soll, der zudem noch direkt in der Verfassung festgeschrieben werden muss. Dabei geht es etwa um eigenständige Gerichte, Staatsanwälte und sogar um eine eigene Volksmiliz. Sollte eine von prorussischen Kräften angeführte Region solche Befugnisse innerhalb des ukrainischen Staates bekommen, würde das die Ausgangslage der ukrainischen Politik für immer verändern. Für Russland wäre dies wohl das Traumszenario. Moskau müsste dann die Volkrepubliken Donezk und Luhansk nicht mehr finanzieren, würde seinen Einfluss in der Ukraine behalten und sogar noch etwas ausweiten. Zudem würde die Lösung des Ostukraine-Krieges die Aussetzung der westlichen Donbass-Sanktionen gegen Russland bedeuten.

Dass diese Voraussetzungen für die Ukraine inakzeptabel sind, hat Selenskyj auf dem Pariser Normandie-Gipfel deutlich signalisiert. Die Ukraine setzt sich nun massiv für die Veränderung des Minsker Abkommens ein, der Schlüsselpunkt ist eben der Zeitpunkt der Übergabe der Kontrolle über die Grenze an Kiew. Dass sich Moskau darauf einlässt, ist sehr unwahrscheinlich. Russlands Präsident Wladimir Putin hat dies zumindest in Paris eindeutig abgelehnt. Und trotzdem gibt es derzeit sowohl in Kiew als auch in Moskau Entwicklungen, die für eine Annäherung sprechen. Vor allem, dass in der Ukraine der ehemalige außenpolitische Berater Selenskyjs Andrij Jermak zum Chef des Präsidentenbüros wurde, während in Russland der ehemalige Vizepremier Dmitrij Kosak in die Präsidialverwaltung wechselte und nun für die Ukraine-Politik verantwortlich sein wird.

Neues Personal – neue Hoffnung?

Dieses Duo steht für den Erfolg der bisherigen Verhandlungen. Nicht nur die Gefangenenaustausche und die Truppenentflechtungen, sondern auch die Verlängerung des Ende 2019 ausgelaufenen Gastransitvertrages zwischen der Ukraine und Russland gehört zu deren Verdiensten. Wichtig ist dabei, dass Kosak in Sachen Ukraine-Politik das Lenkrad vom Putin-Berater Wladislaw Surkow übernimmt, der als ideologischer Hardliner gilt. Für ihn war es um jeden Preis wichtig, starken Einfluss auf die Ukraine zu behalten. Kosak ist hier anders. In der russischen Regierung gehörte er zum wirtschaftsliberalen Flügel. Dieser blickt skeptisch auf die Fortsetzung des Donbass-Krieges, vor allem aufgrund der westlichen Sanktionen. Allerdings macht man sich deswegen im ukrainischen Präsidentenbüro nicht allzu viel Hoffnung, denn die Ukraine-Politik wird doch grundsätzlich von Wladimir Putin höchstpersönlich bestimmt.

Trotzdem war es aus ukrainischer Sicht eine strategisch kluge Entscheidung, Kontakte mit dem wirtschaftsliberalen Flügel in Russland zu knüpfen – wobei auch hier gewisse Gefahren für Kiew lauern. So ist Moskau unbedingt an der Wiederaufnahme der Wasserlieferungen aus der Ukraine auf die annektierte Krim interessiert und könnte die Ernennung Kosaks vor allem für Zwecke solcher Art ausnutzen. Sonst ist aber von einer Strategie in Kiew oft wenig zu spüren. So ging im März etwa ein überwiegend russischsprachiger Sender für den Donbass an den Start, den man größtenteils auch im besetzten Gebiet empfangen kann. Diese Art des Kampfes um die Köpfe macht erst einmal einen guten Eindruck. Trotzdem ist es zu begrüßen, dass die Ukraine seit dem Amtsantritt Selenskyjs deutlich mehr Initiative im Friedensprozess übernimmt. Aber es ist auch jene Initiative, die ziemlich viel Sprengstoff für die innenpolitische Lage in Kiew bedeuten könnte.