Mein großes Glück: Leben in verschiedenen Systemen

aus OWEP 3/2019  •  von Beata Dżon Ozimek

Beata Dżon Ozimek (geb. 1966) stammt aus Oberschlesien und arbeitet als Journalistin und Autorin von Drehbüchern und Filmdokumentationen. Außerdem ist sie als Übersetzerin tätig (u. a. beim 2012 für den Oscar nominierten Kinofilm von Agnieszka Holland „W ciemności“/„In der Finsternis“).

In der Zeit des Sozialismus besuchte ich das hervorragende Lyzeum Nr. 2 in Kattowitz, das als „rot“ galt, aber eine Schmiede für weltoffene Köpfe war. Die Englisch-Klasse und das Abitur im Fach Englisch gaben mir ein Werkzeug für das gesamte Leben an die Hand; daneben habe ich noch ein weiteres, von vielen gehasstes Werkzeug erlernt: die russische Sprache. Im Jahr 1988 wurde mein Sohn geboren, es gab Stoffwindeln aus Baumwolle, man musste sich anstellen, um Säfte zu bekommen, aber ich hatte den Vorteil, dass ich stillte. Mein Mann arbeitete beim staatlichen Fernsehen und wir bekamen Vergünstigungen– es gab Fleisch zu kaufen, gute Spirituosen, wir hatten Bekanntschaften, auch Geld. Ohne die Hilfe der Tochter des kommunistischen Premierministers und der Ehefrau des Woiwoden hätte mein Sohn lebenswichtige Medikamente aus der Bundesrepublik nicht bekommen, er wäre nicht operiert worden und hätte vielleicht nicht überlebt. Meine Freundinnen, die nach Deutschland geflohen waren, schickten mir Babykleidung.

Ich studierte Politikwissenschaften und las den polnischen Schriftsteller Ryszard Kapuściński.

Im Jahr 1991 kam mein zweites Kind auf die Welt – im neuen Polen. Selbstverständlich war ich am 4. Juni 1989 wählen gewesen. Es gab bereits teure Säfte, Babynahrung, und wir eröffneten eine Firma. Die Leute glaubten, dass sie die Welt erobern könnten, und machten Geschäfte. Freiheit, Geld, mein Mann kündigte beim Fernsehen, aber weder er noch sein Teilhaber konnten mit Geld umgehen. Die Karrieren der jungen Geschäftsleute endeten schnell in Schulden, Flucht, Alkoholismus. Wir kauften ein gestohlenes Auto, wahrscheinlich aus Deutschland. Jemand kaufte die Wohnung, in der wir wohnten, und wir mussten ausziehen. Man konnte sich nirgends beschweren oder Hilfe suchen, der Markt war „frei“ und damit wild.

Die deutsche Minderheit in Polen, insbesondere in Oberschlesien, erwachte zu neuem Leben, mein Mann bekam als Fachmann Arbeit beim Fernsehen, aber er war Pole. Zwischen polnischen Deutschen und Polen gab es kein Vertrauen. Sie lernten die deutsche Sprache und ihre Geschichte. Man fuhr übrigens ins Oppelner Schlesien, um Teppiche, Fernseher und Waschmaschinen zu kaufen – die dortigen Deutschen fuhren in die Bundesrepublik und verkauften die Sachen weiter.

Langsam wurden die Städte schöner. Wir fuhren ins Ausland, zwar standen wir an der Grenze im Stau, aber wir besaßen Pässe und ich konnte mit meinem Kind einfach in die Alpen fahren! Aus der Miliz wurde die Polizei – wie stolz wir waren. Ich erinnere mich noch daran, wie wenig Respekt man vor der Miliz hatte, die Menschen verprügelte und einschüchterte; diese Leute begannen jetzt als Polizisten ebenfalls ein „neues Kapitel“. Ich kaufte einen alten Miliz-Kombi, in dem ich mit den Kindern und dem Hund herum reiste.

Das erste Konzert im Ausland: Prag, Tschechoslowakei 1992, Guns n’ Roses. Zum ersten Mal sah ich damals berittene Polizisten, die ich sonst nur von Postkarten aus Kanada kannte. Meine beiden Kinder gingen in den Kindergarten, in die Schule, zur Kommunion, aber sie wollten nicht in den Religionsunterricht, als er eingeführt wurde. Ich überließ ihnen die Entscheidung.

Ich fuhr mit meinem Mann zum Arbeiten nach Deutschland. Wir konnten nicht gut Gemüse auf dem Feld sammeln, aber die Besitzerin mochte uns und zahlte uns trotzdem etwas für unsere schlechte Arbeit. In Polen machten erste Second-Hand-Läden auf. Das war Wahnsinn – Markenklamotten, billig und besser als aus den Paketen, die die Verwandten aus Holland schickten.

Neue Arbeit: Werbung. Dank meiner Freundin und mir wurde Schlesien mit Hunderten von Werbetafeln übersät, die Leute verdienten Geld damit, dass sie gut sichtbare Wände oder Felder besaßen. Wir schufen Wirklichkeit!

MTV! Musikfernsehen, das war ein Erlebnis, Satellitenprogramme. Es sprossen Kirchen und Denkmäler für Johannes Paul II. aus dem Boden – für Bekannte aus dem Westen war es unverständlich, dass man einem lebenden Menschen eine solche Ehre erwies. Die Kirche breitete sich sehr stark aus und mischte sich ins persönliche Leben der Polen ein. Das dauert bis heute an. 2017 bin ich offiziell ausgetreten. Das war keine einfache Entscheidung.

Wir fuhren ins Ausland. Mit den Autodieben, Putzfrauen und Altenpflegerinnen wollten wir nicht in einen Topf geworfen werden. Wir verbrachten unsere Urlaube auf den Kanarischen Inseln, in Afrika usw. statt in Bulgarien oder der DDR. Mein Vater träumte von den „Kanaren“ und einem Mercedes – ich brauchte nicht mehr träumen.

Ich bereue es, dass wir uns dreißig Jahre nicht um die politische Elite gekümmert haben. Nichts bleibt für die Ewigkeit. Tadeusz Mazowiecki, Bronisław Geremek oder Władysław Bartoszewski kommen nicht wieder. Die Freiheit muss man pflegen. Unterschiede respektieren können. Die Polen haben noch viel zu lernen.

Aus dem Polnischen übersetzt von Dorothea Traupe.