Mein Leben in Zeiten des Krieges

aus OWEP 2/2022  •  von Karina Beigelzimer

Karina Beigelzimer lebt als Lehrerin und freie Journalistin in der ukrainischen Hafenstadt Odessa.

Die ersten Tage

Nur wenige Stunden, bevor die ersten russischen Panzer Richtung Ukraine rollten und die ersten Raketen in der Region Odessa einschlugen, feierte ich den Geburtstag meiner Freundin. Obwohl wir nach der Rede des russischen Präsidenten Wladimir Putin sehr besorgt waren, glaubte niemand von uns, dass der Krieg so bald beginnen würde.

Karina Beigelzimer (Foto: privat)

Am frühen Morgen des 24. Februar hatte ich einen Alptraum: Explosionen, Schüsse, Schreie. Oh, nein, das war kein Traum, das war eine neue Realität. Die grausame Wirklichkeit mit Existenzängsten, Toten, Flüchtlingen, aber gleichzeitig mit viel Hoffnung, Mut und Hilfsbereitschaft. Ich hätte niemals gedacht, dass wir einmal in eine solche Lage geraten würden, uns mit einfachsten Mitteln vor einem aggressiven Feind verteidigen zu müssen. Das Leid in der Ukraine wegen des Krieges ist grenzenlos. Tausende Todesopfer hat er bislang gekostet, Millionen Menschen zur Flucht gezwungen.

In den ersten Tagen nach Beginn des Krieges war ich wie gelähmt, ich habe stundenlang die Nachrichten verfolgt und war sprachlos. Dann habe ich verstanden: Wenn das alte Leben nicht mehr funktioniert, brauche ich neue Motivation und Kraft. Auch im Krieg. Aber wie ist es, im Dunkeln das Licht zu sehen?

Es ist sehr wichtig, nicht sofort in Panik zu geraten, sondern alle „Szenarien“ abzuwägen und nach Lösungen zu suchen. Ich habe zuerst mit meiner Familie gesprochen. Wir haben die Entscheidung getroffen, solange wie möglich zu bleiben.

Es ist schwer, sein Leben in einen Koffer zu packen und zu fliehen. Und was könnte ich mitnehmen? Mein Leben, meine Freunde, meine Stadt, meine Heimat und meine Gefühle passen in meinen kleinen Koffer nicht hinein. Außerdem will ich mein Land in dieser schwierigen Lage nicht im Stich lassen. Ich helfe, wo ich helfen kann. Es gibt noch einen Grund, warum ich in Odessa bleibe. Meine Eltern sind alt und krank – ein stundenlanger Transport unter schwierigsten Bedingungen kommt nur als allerletzte Maßnahme infrage.

Schulunterricht im Krieg

Da ich Lehrerin und Journalistin bin, sieht mein Tag folgendermaßen aus: Von 9 bis 14 Uhr gibt es Online-Unterricht, danach Interviews, Artikel und so weiter. Und zwischendurch helfe ich Freiwilligen oder meinen Schülern. Viele von ihnen sind schon auf der Flucht, einige sind drei bis vier Tage allein unterwegs. Ich weine manchmal, wenn ich mit ihnen spreche. Es tut mir unglaublich leid, dass ein wahnsinniger Diktator ihre Kindheit zerstört.

Am Online-Unterricht nehmen etwa 40 bis 60 Prozent der Schüler teil. Sie freuen sich sehr, dass sie mit ihren Klassenkameraden und Lehrern kommunizieren können. Dann fühlt man sich nicht so isoliert; viele Kinder erzählen, dass sie fast die ganze Zeit zu Hause bleiben, weil ihre Eltern Angst haben, wenn sie draußen sind.

Der Online-Unterricht wird ab und zu durch Sirenen unterbrochen. Dann muss die Stunde sofort beendet werden, damit sich alle in Sicherheit bringen können. Besonders schlimm ist der Luftalarm in der Nacht. Er wird in letzter Zeit immer länger. Einmal erreichten die Sirenen mit fünf Stunden durchgängigen schrillen Tönen einen traurigen Rekord. Ich fühle mich sehr erschöpft, weil ich nicht normal schlafen kann. Es ist schon ein großes Glück, wenn man eine Nacht durchschlafen kann, ohne vom Luftalarm geweckt zu werden – und wenn deine Freunde aus anderen Städten am Morgen schreiben, dass sie am Leben sind. Glück ist es auch, wenn du auf der Straße zufällig einen Bekannten aus dem Vorkriegsleben begegnest. Oder wenn man endlich Medikamente findet, die die Eltern brauchen. Das Wort „Glück” hat eine andere Bedeutung bekommen. Früher waren das die schönen Momente und Erlebnisse – eine große Reise, ein gutes Buch, eine interessante Fortbildung, ein Date oder ein ruhiger Spaziergang am Meer.

Jetzt ist alles anders. Ob wir das alles irgendwann wieder genießen können? Eher nicht, denn das Leben von vor dem Krieg gibt es nicht mehr. Man hat es uns geraubt.

In Odessa herrscht Frühling, aber die wunderschöne Stadt sieht im Moment wie eine Kulisse für einen Kriegsfilm aus. Barrikaden, Panzersperren, viele Soldaten und Militärtechnik. Das weltberühmte Opernhaus wurde wie im Zweiten Weltkrieg mit Sandsäcken verbarrikadiert. Am Strand sammeln viele Einwohner Sand und füllen Säcke auf. Odessa zu belagern, ist für Russland enorm wichtig. Es ist die drittgrößte Stadt der Ukraine, eine Hafenstadt, ein wichtiges Wissenschafts-, Kultur- und Industriezentrum. Wenn russische Einheiten Odessa einnehmen, wird die Ukraine vom Schwarzen Meer abgeschnitten.

Wir verteidigen unser Land

Ich bin tausende Male gefragt worden, was mir Kraft und Hoffnung gibt. Es sind Menschen. Bekannte und Unbekannte aus der ganzen Welt, die ihre Unterstützung anbieten. Freiwillige, die Tag und Nacht unseren Soldaten helfen. Einige sind am Strand und füllen Sandsäcke für die Barrikaden auf. Andere spenden Blut und Geld. Jeder leistet Hilfe, wie er kann. Jeder ist ein Kämpfer. Wir tun uns zusammen, um unser Land zu verteidigen.

Unser Präsident macht uns auch jeden Tag Mut. Durch den Angriff Russlands auf die Ukraine hat Wolodymyr Selenskyj erkennbar an Ansehen gewonnen. Früher belächelt als Komiker und Schauspieler, der für seine Rolle in einer Serie bekannt wurde, wirkt er in seinen Fernsehauftritten jetzt reif, überlegt und entschlossen. Er betont sehr oft, nicht die Ukraine alleine, sondern die ganze Welt wird von Russland bedroht. Die Welt muss aufwachen. Fällt die Ukraine, so fällt die Welt als Ganzes. Die Wahrheit in seinen Worten macht mir Angst.

Es geht um meine Zukunft, um die Zukunft aller Ukrainer und die Zukunft der Weltordnung. Ich lebe in einem ständigen Zustand der Verwirrung, weil ich nicht weiß, was als Nächstes passieren wird. Dem Schicksal ausgeliefert zu sein, ist sehr unangenehm. Aber ich bin mir sicher, dass die Ukraine nicht aufgeben und diesen Krieg gewinnen wird. Hoffentlich bald, weil schon der zweite Monat seit dem Angriff begonnen hat.

Und wieder heulen die Sirenen, ich höre Explosionen. Ich tippe diesen Satz, dann laufe ich in den Luftschutzkeller in der Hoffnung, dass die Raketen meine wunderschöne Stadt nicht zerstören werden.