Sinnsuche in einer säkularen Welt

Auf den ersten Blick mag es überraschen, wie wenig selbstverständlich die Frage nach dem Sinn oft erscheint. Nicht nur mit der großen Frage danach, was unserem Leben auf dieser Erde Sinn gibt, sondern auch mit Fragen nach dem eigentlichen Sinn vieler alltäglicher und professioneller Tätigkeiten konfrontiert, ertappen wir uns selbst oft in peinlicher Verlegenheit. Überraschend ist dies jedoch wirklich nur auf den ersten Blick, denn die Marginalisierung, ja Verdrängung der Frage nach dem Sinn und so auch der Sinnsuche ist eines der Kernelemente der technischen Zivilisation. Einer Zivilisation also, die sich seit mehr als zwei Jahrhunderten auf das Meistern und Beherrschen der Dinge konzentriert hat. Die Frage nach dem effektiven Meistern, nach dem Wie (statt Warum) ist daher nicht nur für die verschiedensten Tätigkeiten, sondern auch für das Menschenleben an sich bestimmend geworden.
Sich aus der Sklaverei der Dinge zu befreien und aus der Berauschung durch das Meistern und Beherrschen zu ernüchtern, ist in dieser Situation eine geistige und intellektuelle Leistung. Wenn man so wie ich nicht kirchlich sozialisiert wurde und nicht konfessionell gebunden ist, sondern das Transzendentale auf eigenen Wegen sucht, kann ein solcher Weg nicht anders als verzwickt und unbequem sein. Die Suche ist aber umso abenteuerlicher und die Momente der Befreiung sind faszinierend.
Anregungen aus der Natur
Ich bin in der sozialistischen Tschechoslowakei in einer säkularen Familie aufgewachsen. Hoch in den Bergen, die nächste funktionierende Kirchengemeinschaft war weit entfernt. Meine erste Kirche war der Wald, dessen Fichten ihre Äste und Wurzeln fast bis zu unserer Hütte ausgestreckt haben. Mein heiliger Tempel waren die Felsen des Brunnenbergs, dort, wo keine markierten Wege entlang führten und wo ich oft alleine die Stille oder das Rauschen des Windes genießen durfte. Dies schreibe ich nicht als eine romantische Metapher, sondern als Verweis darauf, was eine ganz zentrale Rolle gespielt hat für meine Art, Fragen nach dem Sinn des Ganzen zu stellen und über die Welt in Erstaunen zu geraten. Es ist das Erlebnis der Natur, die bereits vor uns da gewesen ist, die mächtiger ist als wir und die uns überdauert. Die Natur war meine Lehrerin und Begleiterin, die mir (zusammen mit meinen Eltern) beigebracht hat, was Demut bedeutet. Demut ist nicht eine Emotion, es ist vielmehr die Fähigkeit, das zu erkennen, was größer ist als wir selbst, dies zu akzeptieren, sich anzueignen und darüber hinaus, sich darüber zu freuen, dass wir daran, was uns überragt, irgendwie teilnehmen können.
Das Entdecken verschütteter religiöser Wurzeln
Später lernte ich noch andere Wege zur Kontemplation kennen. Eine der wichtigsten bot sich an, nachdem ich anfing, die teilweise verborgenen Familientraditionen zu entdecken. Schon als Kind wusste ich, dass meine Mutter aus einer jüdischen Familie kam. Doch es waren, neben den wenigen aus dem Jiddischen stammenden Worten, die zu Hause ab und zu benutzt wurden, vor allem die Erinnerungen meiner Großeltern aus Theresienstadt und aus den Vernichtungslagern im Osten (und die Tatsache, dass die Lebenswege der meisten ihrer Nächsten dort ihr Ende gefunden haben), durch die ich meine Zugehörigkeit zur jüdischen Geschichte und Identität aufgebaut habe. Erst später habe ich mehr über die jüdische Spiritualität und über die unterschiedlichsten Rituale erfahren, die im Judentum den Alltag mit dem Glauben, also mit der Erinnerung an Gott, durchdringen. Ich habe gelernt, dass viele Rituale, die auf den ersten Blick eigenartig oder sogar bizarr wirken, einen tieferen Sinn haben. Die Feier des Sabbats etwa deutet unter anderem darauf, dass es nicht selbstverständlich ist, dass wir Zeit als Geschenk bekommen haben und mit ihr umgehen können. In der gegenwärtigen Welt entblößt diese Feier sehr deutlich den Gegensatz zwischen der Raumeroberung, die wir in unserer technischen Zivilisation fast ununterbrochen und effektiv treiben, und dem Feiern der Zeit, dem Anhalten, Innehalten, das uns erst die Chance gibt, unseren Ort und unsere Rolle im Universum zu reflektieren.
Sinnerfüllung durch Offenheit und Liebe
Doch auch die sinnvollsten Rituale oder Regeln reichen nicht dazu aus, die eigentliche menschliche Aufgabe zu begreifen und in die Tat umzusetzen: Liebe zu stiften und sich dadurch daran zu beteiligen, diese Welt zu einem besseren Ort zu machen für diejenigen, die nach uns kommen. Wenn religiöse Regeln, Gebote oder Rituale als identitätsstiftende Elemente an sich zum Kern werden, um die sich das Leben einer Gemeinschaft dreht, schließt sich eine solche Gemeinschaft in der Regel in sich selbst und verstärkt sich durch Ausgrenzung (statt Liebe und einem Dienst der Welt). Gerade deshalb habe ich mich am Ende immer dagegen verwehrt, den Sinn des Lebens innerhalb der jüdischen oder jeder anderen religiösen Gemeinde zu suchen, die doch, bei allen Vorteilen und Verdiensten, auf eigenen Ritualen, Dogmen und so auch auf Ausgrenzung gegenüber denjenigen, die diese nicht teilen, gegründet sind.
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man zum Sinn und zu einem wahren Leben dann kaum gelangen kann, wenn klare Grenzen zwischen uns und den anderen gezogen werden und wenn man zu wissen glaubt, welche Wege in den Himmel und welche in die Hölle führen. Es geht nicht darum, auf die Unterscheidung zwischen Gut und Böse zu verzichten. Gleichzeitig muss man aber wissen, dass alles vielleicht noch ganz anders sein kann, als ich es sehe. Und ich kann anderen nicht vorschreiben, wie sie leben und wie sie suchen sollen.
Auf die Liebe und damit auch auf die Hilfe und das wahre Interesse für die Nächsten dürfen wir nicht verzichten, aber wir dürfen eben über andere nicht Macht ausüben – in der alltäglichen Praxis gar nicht so einfach, wie es vielleicht klingen mag. Man macht Fehler, man resigniert manchmal oderertappt sich dabei, wenn man sich in einzelnen Lebenssituationen doch mit Machtgefühl oder Einflussnahme zufrieden gibt. Wenn man aber nicht aufhört, sich der Frage nach dem Sinn des eigenen Handelns zu stellen, gibt es zumindest eine Hoffnung, dass man sich nicht ganz verirrt. Die Hoffnung, dass man dieser Welt auch weiterhin mit Liebe dient und sich nicht von der eigenen Bedeutung durch Erobern und Beherrschen überzeugen muss. Die Grenze zwischen dem einen und dem anderen ist oft weniger ausgeprägt, als man denkt.