Überlieferung und Aufbruch: Ein Überblick zur religiösen Situation

aus OWEP 4/2020  •  von Jeanine Dağyeli

Dr. Jeanine Dağyeli ist seit 2019 Assistenz-Professorin am Institut für Kasachische Sprache und Turkologie der Nasarbajew-Universität in Nur-Sultan (Kasachstan). Nach dem Studium an der Humboldt-Universität Berlin und der Universität Erlangen (Zentralasien-Studien, Islamwissenschaften und Soziologie) und Promotion (2008) war sie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Post-Doctoral Fellow an der Universität Halle, am Al-Biruni-Institut für Orientalische Studien in Taschkent (2009-2011) und am Leibniz-Zentrum Moderner Orient in Berlin (2014-2018) tätig.

Zusammenfassung

Die Regierungen Zentralasiens bejahen öffentlich ihre ethnische und religiöse Vielfalt und bewerten sie als einen Ausdruck gelebter Toleranz. Historisch, insbesondere durch die Erfahrungen der Sowjetzeit, hat sich eine enge Verbindung von Nationalgefühl und Islam herausgebildet, die all diejenigen religiösen Interpretationen ausgrenzt, die sich außerhalb des engen staatlichen Rahmens bewegen.

„Unser Staat ist nicht nur multiethnisch, sondern auch multikonfessionell“, beschrieb der ehemalige kasachische Präsident Nursultan Nasarbajew eine gängige Sichtweise. Zentralasiatische Regierungen verweisen gern öffentlich auf ihre multiethnischen, multireligiösen Gesellschaften und präsentieren sich als Garanten von gelebter Toleranz. Gleichzeitig sehen sie sich aber auch als Teil der islamischen Welt. So gilt zum Beispiel Kasachstan als das nördlichste mehrheitlich von Muslimen bevölkerte Land. Wie sieht also die religiöse Situation in Zentralasien genau aus, wie gestaltet sich das interreligiöse Zusammenleben und welche Rolle spielt der Islam als Mehrheitsreligion?1

Historisch bedingte Vielfalt

Die multikonfessionelle Gegenwart Zentralasiens ist zum Teil das Ergebnis der kolonialen und sowjetischen Geschichte. Nach der Aufhebung der Leibeigenschaft im Russischen Reich 1861 zogen vor allem slawische Siedler in die neu eroberten Gebiete zwischen Amu Darya und Syr Darya und in die kasachische Steppe.

Ein Jahrhundert später kam eine weitere entscheidende Entwicklung hinzu: Durch stalinistische Umsiedlungen und Auslagerungen wichtiger Industrien während des Zweiten Weltkriegs nach Zentralasien, nach der sowjetischen Neulanderschließung und anderen Maßnahmen stieg die Zahl der ethnischen Gruppen, die in Zentralasien heimisch wurden, weiter an. Unter ihnen waren Wolgadeutsche, Tschetschenen und Koreaner. Das Judentum blickt in der Region auf eine ganz eigene, weit zurückreichende Geschichte zurück. Die so genannten bucharischen Juden stellen eine von den Aschkenasim (mittel- und osteuropäischen Juden) unabhängige Strömung im Judentum dar und lebten seit Jahrhunderten vor allem in den traditionellen Siedlungsräumen der Region wie Buchara, Samarkand oder im Ferghanatal.

Nach dem Ende der Sowjetunion folgte nicht nur das Erlangen der staatlichen Souveränität. Als Reaktion auf den staatlich verordneten Atheismus der UdSSR begann nun in einigen Staaten der Islam zu erblühen und verband sich mit dem Bemühen, eine eigene nationale Identität zu entwickeln. Allerdings wurde das neu erwachende Interesse der Bevölkerung am Islam von den Regierungen strikt kontrolliert. Für sie war nur akzeptabel, was sich im Rahmen eines eng gefassten Religionsverständnisses bewegte. Dieser offiziell als „gut“ und „richtig“ titulierte Islam wurde zum wichtigen Baustein der Nation und des autochthonen, vorkolonialen und vorsowjetischen Erbes erklärt.

So betrachtete der inzwischen verstorbene ehemalige usbekische Präsident Islam Karimow den Islam als spirituell-religiöses Fundament der Nation, als moralische Stütze der Gesellschaft und Selbstvergewisserung im Umbruchprozess. Ähnlich verstanden auch andere Regierungsvertreter und Bürger ihr islamisches Erbe als Ausdruck und Leitlinie ihrer Nation. Das sich daraus entwickelnde Amalgam aus religiösen und national(istisch)en Ideologien prägt die zentralasiatischen Staaten und ihr Verständnis von islamischer Theologie und Praxis bis heute.

Funktionalisierte Religion oder Erziehung zum interreligiösen Frieden?

Das Verhältnis zwischen Religion und Politik ist auch nach dem Zerfall der Sowjetunion schwierig geblieben. Alle fünf zentralasiatischen Republiken sind ihrer Verfassung gemäß säkulare Staaten, in denen religiösen Organisationen das Recht eingeräumt wird, unabhängig vom Staat zu agieren, und in denen sich alle Bürger in der von ihnen gewählten Glaubensrichtung religiös betätigen dürfen. Die staatliche Kontrolle religiöser Aktivitäten lässt sich jedoch als Erbe der Sowjetzeit in allen fünf zentralasiatischen Republiken weiter beobachten, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung.

In Tadschikistan beispielsweise müssen sich Religionsgemeinschaften bei der staatlichen Abteilung für Religiöse Angelegenheiten, die im Kulturministerium angesiedelt ist, registrieren. Offiziell geht es darum, sicher zu stellen, dass sich die jeweilige Religionsgemeinschaft im Rahmen der Gesetze bewegt. Kritiker sehen in dieser Registrierungspflicht jedoch vor allem den Versuch, die politische Betätigung von Religionsgemeinschaften zu unterbinden. Auch Freitagsmoscheen müssen sich registrieren, wenn sie größer sind als Nachbarschaftsmoscheen und Platz für das gemeinschaftliche Freitagsgebet bieten. Es ist jeweils nur eine Freitagsmoschee pro 1.500 Einwohner in einem Kreis erlaubt, was von vielen muslimischen Gläubigen als diskriminierend erlebt wird, da diese Einschränkung für andere Glaubensrichtungen nicht gilt.2

In Kasachstan, wo es 45 registrierte Konfessionsgruppen gibt, verbietet die Verfassung religiöse Parteien sowie Gruppierungen, deren Aktivitäten interethnische, politische oder religiöse Spannungen hervorrufen könnten. Ausländische religiöse Organisationen unterstehen einer staatlichen Kontrolle. Kasachstan ist gleichzeitig das einzige Land in Zentralasien, das dem Islam in der Verfassung keinen besonderen Stellenwert beimisst.

Erfahrungen wie die gewaltsamen Übergriffe auf Angehörige ethnischer und religiöser Minderheiten während der letzten Jahre der Sowjetzeit, der tadschikische Bürgerkrieg (1992-1997) sowie der jahrzehntelange Krieg in Afghanistan sind in das kollektive Gedächtnis Zentralasiens eingeflossen.3 So finden sich auf vielen öffentlichen Plätzen Losungen wie „Interreligiöse Harmonie ist ein Garant der Stabilität“, die eine interethnische und interreligiöse Toleranz und Harmonie beschwören. Besonders deutlich wird das in Kasachstan und Kirgistan, wo die meisten Christen in Zentralasien leben.

Charakteristisch ist für solche Appelle jedoch, dass sich diese Bemühungen weitgehend auf eine symbolische Ebene beschränken. Ein eindrückliches Beispiel dafür ist die 2006 unter Leitung des Architektenbüros von Norman Foster fertiggestellte „Pyramide des Friedens und der Eintracht“ in der kasachischen Hauptstadt Nur-Sultan, die eine Eintracht der verschiedenen Religionen symbolisieren soll.

„Pyramide des Friedens und der Eintracht“4

Das Bauwerk befindet sich an prominenter Stelle schräg gegenüber der zentralen Nur-Astana-Moschee5 und beherbergt unter anderem den von Nasarbajew initiierten Kongress der Führer der Weltreligionen, der alle drei Jahre tagt.6

Mehrheits- und Minderheitsreligionen

In allen fünf zentralasiatischen Republiken ist der sunnitische Islam die Mehrheitsreligion. Gemeinsam repräsentieren diverse islamische Gemeinschaften und die russisch-orthodoxe Kirche zwischen 95 und 98 Prozent aller Gläubigen. Daneben sind römisch-katholische, protestantische und jüdische Gemeinden vertreten. Pfingstkirchliche Missionare sind ebenso aktiv wie Vertreter der Baha‘i, Ahmadiyya, Zeugen Jehovas und der Internationalen Gesellschaft für Krishna-Bewusstsein. Ein besonderes Problem stellt der Umgang mit so genannten „nicht traditionellen“ Gruppen dar. Gemeint sind hierbei vor allem christliche Gruppen außerhalb der russisch-orthodoxen, römisch-katholischen und in der Region bereits länger verankerten protestantischen Gruppierungen, jedoch auch muslimische Strömungen wie die ursprünglich aus Indien stammende Tablighi Jamaat oder die Ahmadiyya-Gemeinschaft.

Während sich das Zusammenleben von turk- oder persischstämmigen Muslimen und (meist) slawischen Christen heute in der Regel problemlos gestaltet, haben es Muslime schwer, die zum Christentum konvertieren wollen – häufig zu protestantischen und pfingstkirchlichen Varianten, gelegentlich auch zur russisch-orthodoxen Kirche. Obwohl dies von staatlicher Seite nicht verboten ist, wird es doch gesellschaftlich geächtet und als Absage an die eigene Kultur begriffen. In einzelnen Fällen, wie 2016 und 2018 in Kirgistan, kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen zum Baptismus konvertierten Familien und deren muslimischen Nachbarn. Im Vorfeld war es verstorbenen Christen verwehrt worden, ihre Angehörigen auf dem Dorffriedhof zu beerdigen. Häufig bekennen sich Konvertiten höchstens im engsten Familienkreis zu ihrer neuen Religion.

Einschränkungen der Religionsfreiheit

Die Skepsis, die solchen „nicht traditionellen“, häufig auch missionierenden Gruppen entgegenschlägt, gibt es nicht nur in der Politik, sondern auch in regierungskritischen Teilen der Zivilgesellschaft. Gleiches gilt für das rabiate, oft willkürliche Durchgreifen der Staatsorgane gegenüber missliebigen Muslimen. Der Verdacht, jemand könnte islamischer Extremist sein, wird immer wieder als Vorwand genutzt, um Menschen festzunehmen. Während betroffene Familien, soweit sie nicht zu sehr eingeschüchtert sind, protestieren, verfängt die Mischung aus staatlicher Rhetorik von Terrorabwehr und individuell erlebter Radikalisierung. Selbst Kritiker des 2016 verstorbenen usbekischen Präsidenten Karimow betonen gerne, dass sein radikales Durchgreifen gegenüber angeblichen Islamisten ein Abgleiten Usbekistans in ein „zweites Afghanistan“ verhindert habe.

Im vergangenen Jahr wurden Tadschikistan und Turkmenistan in einem Bericht des US-Außenministeriums als „besonders besorgniserregend“ eingestuft, weil sie die Religionsfreiheit nicht respektieren.7 Dafür zeigen sich seit der Machtübernahme des neuen Präsidenten Mirsijojew 2018 einige Anzeichen des Wandels in Usbekistan. Zwar haben sich nicht alle Hoffnungen auf Lockerungen des restriktiven Systems und wirtschaftlichen Aufschwung erfüllt, es gibt jedoch Anzeichen dafür, dass Bewegung in das System geraten ist. So wurde zum Beispiel der frühere Imam der in der usbekischen Hauptstadt Taschkent gelegenen Hodscha-Nuriddin-Moschee nach 15 Jahren Haft und Strafkolonie freigelassen und konnte zu seiner Familie zurückkehren.

Diplomatisch zahlten sich diese und weitere Entlassungen von Inhaftierten für Usbekistan aus: Das Land wurde vom US-Außenministerium von der Liste der Länder gestrichen, die die Religionsfreiheit am stärksten missachten. Kritiker monieren jedoch, dass von den Haftentlassungen ausschließlich ältere Muslime profitiert hätten, die auch keineswegs rehabilitiert würden.8

Es bleibt abzuwarten, wieweit die Öffnung Usbekistans tatsächlich gehen wird. Licht und Schatten zeigen sich, wenn man ein vorsichtiges Fazit ziehen will, auch bei den übrigen Ländern Zentralasiens im Blick auf die Freiheit der Religionsausübung.


Fußnoten:


  1. Zum Thema „Religionsfreiheit“ gibt missio Aachen seit einigen Jahren die „Länderberichte ‚Religionsfreiheit‘“ heraus. Darin stellen Experten die Situation in einzelnen Ländern ausführlich vor und berücksichtigen auch historische und juristische Aspekte. Es liegen inzwischen für Zentralasien Berichte zu Kasachstan, Kirgistan und Turkmenistan vor, Tadschikistan ist in Vorbereitung. Die Berichte stehen auch zum Download zur Verfügung (https://www.missio-hilft.de/informieren/wofuer-wir-uns-einsetzen/religionsfreiheit-menschenrechte/laenderberichte-religionsfreiheit/). ↩︎

  2. Allerdings stellen sunnitische Muslime mit ca. 95 % die übergroße Mehrheit unter allen in Tadschikistan vertretenen Konfessionen; andere Religionsgruppen dürften kaum regelmäßig in solch großer Zahl zusammenkommen. ↩︎

  3. Dies bedeutet nicht, dass derartige blutige Auseinandersetzungen nicht mehr stattfinden. Jüngere Ereignisse sind z. B. die Zusammenstöße zwischen Kirgisen und Usbeken im Süden Kirgistans 2010 oder zwischen Kasachen und der muslimischen Minderheit der Dunganen im Süden Kasachstans im Februar 2020. ↩︎

  4. Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Astana_Architecture_01.jpg (Aufnahme vom 14.07.2012, Autor: Ninaras) - Link mittlerweile inaktiv. ↩︎

  5. Die Nur-Astana-Moschee ist auf dem Cover dieses Heftes abgebildet. ↩︎

  6. Interessanterweise war der erste Kongress 2003 noch sicherheitspolitisch von Fragen des Kampfes gegen Terror und Extremismus geprägt. Auch 2006, auf dem ersten Kongress in der Pyramide, ging es noch um Sicherheitsfragen; seitdem haben sich die Themen hin zu friedlichem Dialog, Toleranz und Kooperation gewandelt. ↩︎

  7. Aufgrund „wichtiger nationaler Interessen“ der US-Regierung blieben diese Einstufungen jedoch stets ohne Konsequenzen („The Diplomat“, 27.12.2019). ↩︎

  8. Vgl. zur Entwicklung in Usbekistan seit 2016 auch die Analyse von Bagila Bukharbaeva in diesem Heft. ↩︎