Wahlen inmitten einer politischen Krise
Zusammenfassung
Im Frühjahr 2022 finden in Serbien sowohl Präsidentschafts- als auch Parlamentswahlen statt, außerdem Kommunalwahlen in der Hauptstadt Belgrad. Angesichts der Uneinigkeit der Opposition, die in viele Gruppierungen zersplittert ist, wird damit gerechnet, dass die dominierende Serbische Fortschrittspartei (SNS) unter Präsident Aleksandar Vučić an der Macht bleiben wird.
Gründe für den Wahlmarathon
Das Jahr 2022 verspricht für Serbien turbulent zu werden. Neben den regulären Präsidentschaftswahlen und den turnusgemäßen Kommunalwahlen in der Hauptstadt Belgrad finden auch vorgezogene Parlamentswahlen statt – vermutlich alle am 3. April. Dass die Regierung aus politischem Kalkül mehrere Wahlen zusammenlegt, ist in der serbischen Politik nicht neu, aber in diesem Frühjahr kommt den Urnengängen eine besondere Bedeutung zu.
Um das zu verstehen, sollte man das heutige politische System genauer betrachten. Serbien funktioniert nämlich de facto als Einparteiensystem aufgrund der erstaunlich starken Position der mitte-rechts ausgerichteten Serbischen Fortschrittspartei (SNS) sowohl auf nationaler als auch auf lokaler Ebene. So gibt es in der Nationalversammlung so gut wie keine Opposition, da nur sieben von 250 Parlamentsabgeordneten nicht der regierungstreuen Mehrheit angehören, darunter sechs Vertreter von Parteien nationaler Minderheiten. Die Regierungskoalition, bestehend aus der SNS, der Sozialistischen Partei Serbiens (SPS) und mehreren anderen kleineren Parteien, regiert in fast allen Gemeinden sowie auf regionaler Ebene in der Autonomen Provinz Vojvodina. Die Opposition ist damit auch in den lokalen Parlamenten, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht vertreten.
Dieses Bild des serbischen politischen Systems ist eine direkte Folge der Parlaments- und Kommunalwahlen vom Juni 2020. Die Mehrheit der Opposition hatte sie boykottiert, weil sie die Voraussetzungen für freie und faire Wahlen nicht gewährleistet sah. Doch schon vor den Wahlen 2020 kontrollierten die SNS und ihre Verbündeten fast alle Städte in Serbien und saßen fast allein im Parlament, da die meisten Oppositionellen seit Anfang 2019 Parlamentssitzungen boykottiert hatten. Aus ihrer Sicht fehlte es an den Voraussetzungen für das ordnungsgemäße Funktionieren des Parlaments und einer politischen Debattenkultur.
Serbien ist ein Land in einer tiefen politischen Krise. Das politische Klima ist vergiftet und polarisiert, sodass mehrere Zyklen eines parteiübergreifenden Dialogs, die sowohl vom Europäischen Parlament (EP) als auch von lokalen Akteuren unterstützt werden, bisher kaum zu Verbesserungen geführt haben. Der Begriff „Bürgerkrieg“ gehört zum Alltag im politischen Diskurs und die Rhetorik der politischen Akteure hat sich im Laufe der Jahre radikalisiert. Es wäre jedoch ein Fehler zu glauben, dass diese Entwicklungen das Ergebnis ideologischer Differenzen sind oder der mangelnden Bereitschaft der Opposition, Wahlniederlagen zu akzeptieren. Im Falle Serbiens wird die Demokratie nicht etwa durch die politische Polarisierung und das Ausmaß der Krise gefährdet, sondern beide Phänomene sind eine direkte Folge des Niedergangs der Demokratie.
Dieser Niedergang hat die Position von Aleksandar Vučić, des Vorsitzenden der Serbischen Fortschrittspartei, seit deren Wahlsieg im Jahr 2012 gestärkt.1 Vučić war von 2012 bis 2014 stellvertretender Ministerpräsident, von 2014 bis 2017 Ministerpräsident und ist seit 2017 Präsident Serbiens. Trotz seiner wechselnden Positionen war er in dieser ganzen Zeit de facto Regierungschef. Die Minister und sogar der Ministerpräsident bezeichnen ihn als ihren „Boss“ und loben oft seine Vision, Politik und Erfolge. Dieser Personenkult, der sich auf die große Medienpräsenz und eine offensichtlich vorhandene Autorität über alle Parteimitglieder stützt, hat die Macht aus den formellen Institutionen in Vučićs Hände verlagert. Obwohl Serbien der Verfassung nach ein semipräsidentielles System mit Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Legislative ist, funktioniert es in der Realität als präsidiales System, in dem alle Macht beim Präsidenten liegt.
Dokumentation der Demokratie-Defizite
Obwohl viele Beobachter die Entscheidung der Opposition, die Wahlen 2020 zu boykottieren, kritisiert haben, gibt es einen breiten Konsens darüber, dass die Bedingungen für die Wahl alles andere als akzeptabel waren. Probleme, die von der Opposition als entscheidend herausgestellt wurden, etwa Druck auf die Wähler und mangelnde Medienfreiheit, wurden von lokalen und internationalen Organisationen dokumentiert, auch von der Europäischen Union (EU).
Praktisch alle international anerkannten Indizes für Demokratie und Medienfreiheit haben in den vergangenen Jahren einen deutlichen Niedergang in Serbien verzeichnet. Die US-amerikanische Denkfabrik „Freedom House“ stufte das Land von einer „unsicheren Demokratie“ zu einem „Übergangs- oder Hybridregime“ herab. Das in Schweden ansässige „V-Dem Institute“ zählt Serbien zu den fünf Ländern mit den stärksten Einbußen bei der Demokratieentwicklung über die letzten zehn Jahre und kennzeichnet das Land als „kompetitive Autokratie“. Auf der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen ist Serbien seit 2014 um 39 Plätze abgefallen.
Es gab jedoch einen Prozess, der darauf abzielte, genau diese demokratischen Mängel anzugehen. Das Europaparlament leitete 2019 einen parteiübergreifenden Dialog ein, an dem es amtierende und ehemalige Mitglieder aus der Europäischen Volkspartei (EVP) und der Sozialdemokratischen Fraktion (S&D) beteiligte. Dieser Dialog wird weitgehend als gescheitert angesehen, da die meisten Oppositionsparteien Serbiens schon vor seinem Beginn ihre Absicht bekannt gaben, die Wahlen zu boykottieren. Sie lehnten deshalb eine Teilnahme ab. Die technischen Verbesserungen, die der Dialog dann im Vorfeld der Wahlen erzielte, waren bestenfalls bescheiden. Die Wahlen selbst wurden von großen Unregelmäßigkeiten und Kontroversen überschattet.
Nachdem Präsident Vučić unmittelbar nach der Bildung der neuen Regierung im Oktober 2020 eine weitere Parlamentswahl bis zum Frühjahr 2022 angekündigt hatte, bot sich erneut die Gelegenheit für eine weitere Phase des vom EP vermittelten Dialogs. Diese zweite Phase begann 2021, diesmal unter Beteiligung der meisten Oppositionsparteien. Nachdem die EP-Vermittler im September 2021 den Entwurf für ein Abkommen vorgelegt hatten, verließen jedoch fast alle Oppositionsparteien die Gespräche mit der Begründung, dass die vorgeschlagenen Maßnahmen nicht ausreichten, um die Bedingungen für freie und faire Wahlen zu schaffen. Die Umsetzung dieses Abkommens ist noch im Gange und es bleibt abzuwarten, ob es bei den kommenden Wahlen zu sinnvollen Verbesserungen führen wird.
Fast alle Oppositionsparteien haben bisher erklärt, dass sie anders als beim letzten Mal in diesem Frühjahr an den drei Wahlen teilnehmen wollen. Dies wäre das offizielle Ende des Boykotts und eine Gelegenheit für das politische Leben in Serbien, sich nach Jahren der Krise wieder zu normalisieren. Angesichts der ungelösten schweren Demokratiedefizite könnte die Rückkehr der Opposition allerdings auch zu einer weiteren Eskalation führen.
Zersplitterte Opposition
Zum Zeitpunkt der Entstehung dieses Beitrags beginnen sich erste Wahlbündnisse zu formen. Die wichtigste Oppositionskoalition – noch namenlos – wird aus den Mitte-Links-Parteien für Freiheit und Gerechtigkeit (SSP) und Demokratische Partei (DS), der Mitte-Rechts-Volkspartei (NS) und der liberalen Freien Bürgerbewegung (PSG) sowie mehreren anderen kleineren Parteien und Bewegungen bestehen. Diese Koalition entspricht teilweise der aufgelösten Allianz für Serbien (SzS), einer politischen Formation, die hinter der Boykottkampagne stand. Die Kandidatin der Koalition für das Amt des Ministerpräsidenten wird Marinika Tepić (SSP) sein, eine beliebte Oppositionspolitikerin. Umfragen zeigten Ende 2021, dass diese Koalition nach der Liste um die regierende Serbische Fortschrittspartei (SNS) mit Abstand die meisten Stimmen erhalten könnte.
Das zweite Oppositionsbündnis, das Gestalt annimmt, ist die grün-linke Koalition aus der Umweltbewegung „Lasst Belgrad nicht ertrinken“ (NDBGD), „Miteinander für Serbien“ (ZZS), „Ökologischer Aufstand“ und weiteren lokalen und ökologischen Bewegungen. Diese Gruppe wird mit ziemlicher Sicherheit bei der Kommunalwahl in Belgrad getrennt von der wichtigsten Oppositionsgruppe antreten. Umfragen deuten darauf hin, dass diese Koalition in Belgrad mehr als zehn Prozent der Stimmen gewinnen könnte. Welche Chancen sie landesweit hat, ist schwer vorherzusagen.
Die Gruppe profitiert davon, dass Umweltfragen in der serbischen Politik an Bedeutung zunehmen. Die meisten Demonstrationen waren 2021 Umweltproteste. Große Kundgebungen und Straßensperren in ganz Serbien wurden durch zwei Gesetzesänderungen Ende November ausgelöst. Sie betrafen zum einen Volksentscheide und Bürgerinitiativen, zum anderen den sensiblen Bereich der Enteignung, konkret im Hinblick auf das umstrittene Projekt einer Lithium-Mine in Westserbien.2 Dies führte zum wohl größten und radikalsten Bürgerprotest in Serbien der vergangenen Jahre.
Auch die übrigen Oppositionsparteien werden wahrscheinlich Wahlbündnisse bilden. Ein Block, bestehend aus der konservativen rechten Dveri und anderen kleineren rechten Organisationen, wurde bereits angekündigt. Ein weiterer relevanter Anwärter wird die populistische „Genug ist genug“ (DJB) sein, die entweder unabhängig antreten oder sich einem der bestehenden Blöcke anschließen wird. Mehrere andere kleinere Parteien haben noch nicht verlauten lassen, ob sie an den Wahlen teilnehmen werden.
Ein wichtiges Phänomen im serbischen politischen System stellen diejenigen politischen Parteien dar, die oft als „fake opposition“ bezeichnet werden. Diese Parteien sind nominell in der Opposition und stehen häufig der Regierung kritisch gegenüber, zielen aber nicht wirklich darauf ab, die an der Macht befindliche Partei zu gefährden. Diese Kategorie von Parteien ist schwer zu definieren und es ist noch schwieriger, sie von echten Oppositionsparteien eindeutig abzugrenzen. Vermutlich werden sie eine Koalition mit der SNS bilden, sofern dies nach den Wahlen rechnerisch notwendig sein sollte. Das Spektrum dieser Gruppierungen ist sehr zersplittert, am vielleicht bedeutendsten ist das Bündnis der „Monarchistischen Erneuerungsbewegung des Königreichs Serbien“ (POKS) und der rechtsgerichteten Demokratischen Partei Serbiens (DSS), die drei Prozent oder sogar noch mehr gewinnen könnten.
Das Spektrum der Regierungsparteien
Wenn es um die Regierungsparteien geht, sind die Dinge einfach. Um mehr als 50 Prozent der Stimmen zu gewinnen, müssen sie vor allem in Belgrad gemeinsam eine Wahlliste bilden und vermeiden, Stimmen zu verlieren. Neben der dominanten SNS ist die größte Partei in dieser Gruppe die Sozialistische Partei Serbiens (SPS), die voraussichtlich gemeinsam mit der SNS antreten wird, da der Präsidentschaftskandidat – also Aleksandar Vučić – praktisch feststeht. Die einzige Ausnahme ist die Partei der ungarischen Minderheit „Allianz der Ungarn der Vojvodina“ (SVM), die aufgrund von Sonderregelungen über die politische Vertretung nationaler Minderheiten sicher in das Parlament einziehen wird.
Die kommenden Wahlen werden vermutlich kaum zu einem Wechsel der Regierung führen: Sowohl die politische Gesamtkonstellation als auch die offensichtliche Popularität von Vučić sprechen gegen einen Regierungswechsel. Die Wahlen werden jedoch eine Gelegenheit für die Opposition – insbesondere für die neugegründeten Parteien – sein, sich zu konsolidieren und gegenüber den Wählern an Profil zu gewinnen. Außerdem sind sie ein Test dafür, ob Wahlen in Serbien wirklich fair und demokratisch ablaufen können.
Bedeutung der Kommunalwahl in Belgrad
Besonders wichtig sind die Kommunalwahlen in Belgrad. Hier hat die Opposition gute Chancen zu gewinnen, zum einen wegen ihrer guten Umfragewerte, zum anderen aber auch, weil Wahlunregelmäßigkeiten in der Hauptstadt weniger wahrscheinlich sind. Ein Sieg in Belgrad könnte auch zu einem Sprungbrett für einen künftigen Sieg der Opposition auf nationaler Ebene werden. Bei einem Sieg in der Hauptstadt stünden der Opposition gewaltige Ressourcen zur Verfügung. Für eine Opposition, die anderswo in Serbien keine öffentlichen Posten hält, wäre die Übernahme der Belgrader Stadtverwaltung ein großer Erfolg und würde ihr moralischen Auftrieb verleihen. Genau das ist auch der Regierungspartei klar und führte dazu, alle Wahlen auf den gleichen Tag zu legen, denn Vučićs persönliche Popularität ist weitaus größer als die seiner Partei.
Die Wahlen im April 2022 werden daher aus mehreren Gründen wichtig sein:
- Erstens aufgrund der Möglichkeiten für die Opposition, ihre Position zu verbessern und die SNS in Belgrad herauszufordern.
- Zweitens werden sie ein echter Test für die Wahlbedingungen sein und deshalb nicht nur akademische Diskussionen über den Zustand der serbischen Demokratie beeinflussen, sondern auch enorme Auswirkungen auf die Aussichten für einen EU-Beitritt haben.
- Drittens könnten sie sich als Test für den Autoritarismus in Serbien erweisen. Die SNS und Vučić haben bisher keine einzige Wahl auf nationaler oder lokaler Ebene verloren, seit sie im Amt sind. Niemand weiß, wie die Regierungspartei auf Wahlverluste – auch auf potenzielle – reagieren wird und wie weit sie dabei gehen könnte, um ihre Macht zu erhalten. Angesichts der Verbindungen einiger hochrangiger SNS-Funktionäre zur organisierten Kriminalität, die 2021 deutlich wurden, stellt sich auch die Frage, ob sich die Regierungspartei Wahlverluste leisten kann.
Aus all diesen Gründen ist eine „Rückkehr zur Normalität“ im Jahr 2022 ebenso möglich wie eine weitere Eskalation der politischen Krise. Die Verschlechterung der demokratischen Institutionen, das Fehlen eines gesellschaftlichen und politischen Dialogs sowie die zunehmende Polarisierung haben nicht nur den Machtzuwachs von Vučić und informeller Kanäle um ihn herum befördert. Diese Entwicklungen haben es auch erschwert, politische Auseinandersetzungen zu lösen, sowie Radikalisierung und Gewalt verstärkt. In diesem Sinne wäre es auch keine gute Option, einfach „zur Normalität“ zurückzukehren, wenn dies nur einer Simulation von Demokratie in einem personalisierten Regime gleich käme.
Aus dem Englischen übersetzt von Christof Dahm.
Fußnoten:
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Zu Person und Wirken Aleksandar Vučićs vgl. auch das Porträt in dieser Ausgabe. ↩︎
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Die Proteste von Umweltschützern richteten sich 2021 gegen die von der Regierung unterstützten Pläne des britisch-australischen Rio Tinto-Bergbaukonzerns zum Abbau von Lithium im Westen Serbiens (vgl. https://www.dw.com/de/umweltprotest-in-serbien-die-%C3%B6ko-revolte/a-60034718). ↩︎