„Wo der Mensch den Krieg zu lieben beginnt, wird er zur Geisel des Krieges.“

Ein Gespräch mit Andrij Selinskyj SJ
aus OWEP 4/2019  •  von Michael Albus

Pater Andrij Selinskyj SJ ist Militärseelsorger in der ukrainischen Armee. – Die Fragen stellte Michael Albus.

Pater Andrij, Sie sind Militärseelsorger. Wie ist diese Seelsorge organisiert in einem Land, in dem tatsächlich Krieg herrscht? Wie sieht Ihre Arbeit aus?

Mit der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 bestand zum ersten Mal die Möglichkeit, die Soldaten auch seelsorglich zu begleiten und Strukturen der Seelsorge zu schaffen. Das geschah zunächst ehrenamtlich, ohne staatliche Teilnahme. In den letzten 25 Jahren haben die Kirchen und Religionsgemeinschaften dann versucht, mit Zustimmung der Behörden eine geordnete Militärseelsorge zu etablieren. Wir standen vor einer Situation, die noch von sowjetischem Denken geprägt war. Das heißt, es war sehr schwierig, dem Staat verständlich zu machen, dass auch Soldaten der Seelsorge bedürfen. Es klingt seltsam, aber es ist so: Der Krieg hat uns, den Kirchen und Religionsgemeinschaften, geholfen – in den ersten Monaten des Krieges ist es offensichtlich geworden, dass die Rolle des Priesters und damit die Seelsorge für die Soldaten wichtig ist. Im Juli 2014 bin ich zum Militärkaplan beim Generalstab der ukrainischen Armee ernannt worden. Aber das war nur die Genehmigung, tätig zu werden. Offiziell gibt es den Posten erst seit 2017.

Wie sah Ihre Arbeit aus? Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?

Ich bin auch militärisch vorbereitet worden für meinen Dienst. Mit allem, was dazu gehört, bis hin zu Gewaltmärschen. Gut war dabei, dass ich damals schon viele bleibende Freunde im Heer gefunden habe. Der Krieg ist für mich etwas sehr Persönliches, vor allem auf dieser Ebene habe ich ihn erlebt.

Als der Krieg dann begann, hatte ich schon eine Menge Erfahrungen im Vorfeld sammeln können. Und danach begann der Weg, den ein Soldat im Krieg zu gehen hat. Ich kam in die Städte und Dörfer im Kriegsgebiet, in die Nähe des Flughafens von Donezk, nach Debalzewe und nach Schyrokyne; Schyrokyne war der einzige Ort, in dem keine Bewohner zurückgeblieben sind, ein Dorf, das völlig menschenleer war. Ich lernte den gesamten Frontverlauf im Bezirk Donezk kennen. Ich arbeitete bei den Marineinfanteristen, einer Eingreiftruppe im „antiterroristischen Kampf“, wie der Krieg damals offiziell genannt wurde. 2017 bin ich dann hierher in den Stab gekommen, um die Arbeit der Militärseelsorger zu organisieren.

Ich frage wieder nach Ihren persönlichen Erfahrungen. Oder: Was macht der Krieg mit den Menschen?

Der Krieg ist eine transzendentale Erfahrung. Er erlaubt uns, die Welt auf der anderen Seite der Zivilisation zu erleben, zu erfahren. Der Krieg ist eine radikale Zerstörung von Zeit und Raum. Alles, an was wir uns in unserem alltäglichen Leben gewöhnt haben, verschwindet. Es gibt keinen Tag und keine Nacht mehr. Es gibt nur noch die Zeit, in der der Beschuss stattfindet, und die Zeit, in der man ausruhen kann. Das gewohnte Zeitgefühl löst sich auf. Du bewegst dich nicht mehr auf dem kürzesten Weg von einem Punkt zu einem anderen Punkt. Du nimmst nur noch die Schützengräben wahr, in denen man sich verstecken kann, wenn der Beschuss der Geschütze einsetzt. Die sichere Welt verschwindet vollkommen. Und dann ist der Mensch gezwungen, sich, sein Leben zu verteidigen, manchmal ganz aggressiv. – Und es gibt noch einen anderen Feind: die Langeweile. Wenn du neun Monate lang im Schützengraben lebst und es verändert sich nichts, dann ist die herrschende Wirklichkeit genau so gefährlich, wie die Geschosse es sind. Das ist die Situation, in der der Militärseelsorger die schwerste Arbeit hat. Er muss den Soldaten eine Sinnhaftigkeit vermitteln von allem, was um sie herum geschieht.

Muss er, provozierend gefragt, ihnen auch die Sinnhaftigkeit des Krieges vermitteln?

Für den Menschen muss alles einen Sinn bekommen, damit der Mensch Mensch bleibt. Sonst würden wir zum Tier im eigenen Herzen. Das wäre das Ende. Und dann siegt der Krieg über dich! Das ist die Hauptaufgabe des Militärseelsorgers: den Menschen in der Situation des Krieges persönlich zu begleiten. Er muss ihn in seinem Glauben bestärken. Nur wenn der Mensch den Sinn seines Daseins, gleich in welcher Situation, versteht, kann er Mensch werden und Mensch bleiben.

Ich stelle mir gerade das unglaublich schwierig vor. Können Sie es an einem konkreten Fall einmal erläutern?

Mit rund 3.000 Soldaten war ich an einer Frontlinie, die sich etwa 40 Kilometer lang erstreckte. Ich bin ständig im Kreis herum von einer Position zur anderen gelaufen. Das war etwa sechs Kilometer vom Flughafen Donezk entfernt. Es war Weihnachten. Als ich auf dem Weg zu einer Abteilung war, begann plötzlich ein Luftminenbeschuss. Ich befand mich auf der Straße und neben ihr war nur noch eine Mauer. In der Mauer war ein Loch und ich bin durch dieses Loch in einen Park auf der anderen Seite gelangt. Und sofort stellte ich fest, dass diese Wand mich auch nicht vor den Luftminen schützen konnte. Ich kann mich gut daran erinnern, wie ich im Schnee saß und plötzlich keine Angst mehr hatte. Ich sagte nur noch: „Gott, ich bin in Deinen Händen!“ Man muss dann etwas tun, auch beten kann man. Sonst bricht alles zusammen. Das ist die schwarze Philosophie des Krieges: Die Menschen werden sich zur gegenseitigen Bedrohung. Einer für den anderen. In solchen Situationen muss ich den Menschen nahe sein. Dann kann eine rettende menschliche Beziehung entstehen.

Ich habe noch eine letzte Frage: Wie erklären Sie als Christ, als Priester, als Seelsorger einem Menschen im Krieg, dass er seinen Feind lieben soll?

Ich erkläre es immer so: Nur die Liebe ist fähig zu siegen. Die Liebe zu denen, die du verteidigst, und die Liebe zum Leben insgesamt.

Wie geht das, wenn neben dir einer tödlich getroffen wird und du sollst auch den lieben, den Feind also, der ihn erschossen hat?

Wir leben im 21. Jahrhundert. Der Krieg hat ein anderes Gesicht. Er sieht nicht mehr so aus wie im 19. oder 20. Jahrhundert. Selten stehen sich die Soldaten direkt gegenüber. Das Gebüsch schießt auf das Gebüsch. Aber die Wunden sind natürlich real und der Tod auch.

Wo der Mensch den Krieg zu lieben beginnt, sei es in Afghanistan, im Irak oder in der Ukraine, beginnt er, zur Geisel des Krieges zu werden.

Und in diesem Krieg in der Ukraine?

In diesem Krieg verteidigen die Soldaten das Recht des ukrainischen Volkes auf sein Leben.