Die Roma in Polen

(Bericht)
aus OWEP 2/2003  •  von Lidia Ostałowska

Die Autorin ist Reporterin der polnischen Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“ und Verfasserin eines Buches über die Roma in Mittel- und Osteuropa („Cygan – to cygan“).

„Stadt des Schreckens“ – diese Schlagzeile brachte die „Gazeta Wyborcza“ am 12. Dezember 2002 auf der ersten Seite. Diese größte polnische Tageszeitung schrieb: „Erschrockene Lokalbesitzer und unverfrorene Banditen -– das ist die Wirklichkeit von Chrzanów, einer Stadt, in der eine verbrecherische Gruppe regiert. Józef F., mit Pseudonym Beretta, terrorisiert seit Jahren das fünfzigtausend Einwohner zählende Chrzanów und die umliegenden Städtchen. Seine Leute erpressen Schutzgelder und handeln mit Rauschgift.“

Einige Jahre zuvor war in Chrzanów das Restaurant „Cyganeria“ entstanden. Roman Kwiatkowski hatte es in einem von seinen Eltern ererbten Haus eingerichtet. Romans Vater war Wajda (Führer) eines Zigeunerlagers gewesen, geachtetes und einflussreiches Mitglied der Roma-Ältesten. Die Seinen nannten ihn Baro Władek – den „Großen Władek“. Als die kommunistischen Behörden den Roma das Umherziehen verboten, entschied er sich für Chrzanów, das er aus der Zeit der Winterlager kannte.

Der Architekt gab der Gaststätte eine Form, die an die Tradition der hier in Kleinpolen üblichen Schenken anknüpft. In der „Cyganeria“ gibt es natürlich auch eine Muttergottesstatue. Es ist ein modisches Lokal in der „Stadt des Schreckens“.

In Polen dringt die Wahrheit über solche Städte selten an die Öffentlichkeit. Wenn es Roman Kwiatkowski nicht gäbe, würden die Gangster hier weiterhin regieren. Vor einem Jahr drang ein gutes Dutzend maskierter Männer mit Baseballschlägern in das Lokal ein. Sie demolierten die Einrichtung, setzten die Kunden in Angst und Schrecken und kündigten an, sie würden zurückkehren, um „die Bude auseinanderzunehmen“. Bald danach bekam Kwiatkowski einen Anruf mit dem Vorschlag, man sollte sich „unterhalten“. Er lehnte Verhandlungen mit den Banditen ab. Ein paar Monate später kamen sie. Als sie mit den Gartenstühlen die Scheiben zerschlugen, verbarrikadierten sich die Gäste im Restaurant und riefen die Polizei. Die Täter entkamen, aber sie waren erkannt. Die Polizisten nahmen u. a. Beretta fest, ließen alle Verhafteten aber am nächsten Tag frei. Danach weigerten sich die Zeugen, Aussagen zu machen. Mitte Dezember kam Beretta wieder mit zweien seiner Leute in das Restaurant. Er bestellte Abendessen, bezahlte nicht und warf mit Weinflaschen um sich. Schließlich stürzten sich alle drei auf einen Zeugen. Nach Schlägen und Tritten wurde er ins Krankenhaus eingeliefert. Die Kellnerinnen erhielten drohende Anrufe, deshalb zogen sie ihre Aussagen zurück. Eine schrie einem Polizisten, der sie verhören wollte, ins Gesicht: „Ich will leben.“ Nach diesem Überfall und nach fruchtlosen Versuchen, die örtliche Polizei für den Fall zu interessieren, beschloss Roman Kwiatkowski, sich in dieser Frage an die „Gazeta Wyborcza“ zu wenden.

Noch unlängst wäre dies undenkbar gewesen. Die Roma lebten in ihrer eigenen Enklave. Sie identifizierten sich mit Polen, nicht aber mit dessen Institutionen: Kontakte mit der Polizei, mit der Staatsanwaltschaft, mit dem Gerichtswesen, mit Schule und Presse mieden sie absolut. Sie legalisierten ihre Geschäfte nicht. Konflikte mit der polnischen Umgebung pflegten sie im Stillen zu lösen, sie milderten Konflikte aus Angst vor Repressionen.


Die ethnischen Sympathien und Antipathien von uns Polen wechseln. Die Amerikaner lieben wir etwas weniger und die Deutschen etwas mehr als einst. Die Vorurteile gegenüber den Ukrainern schwinden allmählich, dafür tauchten auf der „Liste des Hasses“ die Serben auf. In einem zeigen die Polen Stetigkeit. Wen möchtest du nicht als Nachbarn haben? Die Roma. In letzter Zeit fielen sie bei diesem Ranking auf den zweiten Platz. Überholt wurden sie von den „Rumänen“ – so nennt man bei uns die aus Sibiu, Timişoara und Bukarest zugewanderten Roma. Sie machten sich missliebig durch aufdringliches Betteln, für das sie Kinder einsetzten.

Die Liste der Vorwürfe, die man den polnischen Roma macht, besagt: sie arbeiten nicht, aber sie haben; sie betrügen, stehlen, machen Schmutz und Krach; sie leben isoliert; sie wollen sich uns nicht anpassen. Seit Jahrhunderten war es wohl noch nie so schlecht.

Die Roma tauchten auf polnischen Straßen im 15. Jahrhundert auf. Sie übten die Berufe von Nomaden aus. Sie flickten Kessel, löteten Töpfe, verkauften Pferde auf den Viehmärkten, veranstalteten Zirkusdarbietungen. Sie waren nützlich. Sie faszinierten, weil ihre Frauen sich in der Magie auskannten. Sie galten als kleine Betrüger, aber den Polen war ihr Schicksal nicht gleichgültig. „Der Schmied hatte Schuld, doch den Zigeuner hat man gehängt“ – das war ein Sprichwort, das uns aus diesen Zeiten geblieben ist.

Das harmonische Zusammenleben endete kurz nach dem Krieg. Die Roma-Freiheit – die Grundlage ihres Seins – spottete der kommunistischen Ordnung Hohn. 1952 beschloss die Volksrepublik Polen eine „Aktion erzieherischer Beeinflussung“, die die Roma zwingen sollte, ihr Wanderleben aufzugeben. Die Miliz sollte routinemäßig „nicht nur die Identität der einzelnen Personen, sondern auch die Bewegung der Zigeunerlager überprüfen“. Man zwang den Roma (meist polnische) Vornamen und Namen auf. Sie wurden auf besonderen Karten registriert. Das Zentralkomitee der Partei urteilte: „Um wirksam zur Liquidierung des Wanderlebens beizutragen, ist eine systematische, planmäßige Tätigkeit zu beginnen, die auch Elemente des Zwangs enthält.“ Die Roma aus der Generation Roman Kwiatkowskis wurden noch in Zigeunerlagern geboren. An jene Zeit erinnern sie sich folgendermaßen: „Sie bedrückten uns immer schlimmer. Sie mäkelten über die Schilder und Lichter an den Wagen, sie befahlen uns, die Lagerfeuer auszumachen. Auf der Straße hieß es alle Augenblicke: Zigeuner, was machst du? Zigeuner, wovon lebst du? Es gab Strafmandate, Gerichtsverhandlungen, wegen der dunklen Hautfarbe steckten sie einen für 48 Stunden ins Loch.“

In Frühjahr 1964 wurden die Zigeunerwagen endgültig angehalten: „Das sah unterschiedlich aus. Manchmal umzingelte die Miliz das Lager und nahm die ganze Sippe aufs Revier mit. Die Männer mussten sich nackt ausziehen, die Frauen halb. Sie schauten nach besonderen Kennzeichen, guckten in die Zähne, befahlen die Haare anzuheben. Danach wurden sie auf einen Schemel gesetzt und man machte Aufnahmen – von vorn, von den Seiten. Sie nahmen alle mit, nicht nur den, der etwas angerichtet hatte.“

Die Wagen wurden in Brand gesetzt, die Roma mit Gewalt angesiedelt.

Sie waren widerborstig, versuchten um jeden Preis die Identität zu retten, zu der das Wandern gehörte. Im Frühjahr machten sie sich heimlich auf den Weg und verbargen sich in den Wäldern. Sie erzählen von dieser Zeit. „Mit der Polizei war es unterschiedlich. Da kommt ein Milizposten auf unsere Lichtung. Der Wajda unseres Lagers sagt: ‚Sie trinken doch einen, Herr Kommandant?‘

Er kippt einen und sagt: ‘Ihr seid ordentliche Zigeuner. Ich war nicht hier. Ich habe nichts gesehen.‘ Ein anderer wieder war streng: ‚Den Ausweis!‘ Der Zigeuner: ‚Herr, ich habe keinen. Ich hatte einen, aber ... die Kinder haben ihn verbrannt.‘ ‚Name?‘ ‚Dębowski Marian.‘ (Er lügt.) ‚Und wer ist hier der Wajda?‘ ‚Der da.‘ (Wieder lügt er und zeigt auf einen Betrunkenen.) ‚Hier darf man nicht stehen, macht euch davon!‘ Dann kommen Zigeunerinnen gelaufen: ‚Aber wie denn, Herr? Seine Frau ist im Krankenhaus!‘ ‚Sein Pferd hat sich das Bein gebrochen!‘ ‚Er hat eine schwangere Tochter!‘ Die Zigeuner borgten das Notwendige einander aus: die Ausweise, die Meldebescheinigungen, die Taufurkunden. So wuchs man heran.“

Die Roma-Jugend lauscht noch immer diesen Erzählungen. Sie werden Teil ihres Ethos.


Die jungen Roma fühlen sich wohl in den Villen und Wohnblocks. Die Großeltern (sie sind möglicherweise erst 40 Jahre alt, denn Ehen werden früh geschlossen) klagen noch immer darüber, dass es ihnen zu eng, zu stickig sei. Während sie in bequemen Sesseln sitzen, überliefern sie die im Wald erlernten Wahrheiten der eigenen Großeltern: „In ihren Augen war alles Nichtzigeunerische bedrohlich und alles Zigeunerische gut. Mit der Luft sogen wir die mündlich überlieferten Gesetze und Verhaltensnormen ein: Man darf den Gadji1 Zigeunerdinge nicht offenbaren. Man darf keinen anderen Zigeuner verraten. Ein Zigeuner spricht mit dem anderen in der Zigeunersprache. Den Älteren begegnet man mit Achtung, denn sie überliefern uns Sprache und Recht. Was von den Gadji kommt, ist unrein.“

Das Misstrauen der europäischen Roma ist eine Lektion, die sie aus Pogromen und Verfolgungen gelernt haben. Nomaden begreifen gut das Prinzip, dass man das Besondere der eigenen Kultur schützen muss. Bis zum Kriege lebten Polen und Roma für sich, aber sie brauchten einander. Der Kommunismus zerbrach dieses Prinzip und übte Gewalt gegen alle aus. Doch die Roma traf diese Gewalt aus polnischen Händen. Sie fürchteten die Staatsmacht und das Denunziantentum. Deshalb begannen sie nach der tragischen Erfahrung der Zwangsansiedlung in einer besonderen Art von Konspiration zu leben.

„Sie arbeiten nicht, aber sie haben.“ Diese Überzeugung der Polen stammt eben aus den Zeiten der Volksrepublik. Chef der zahlenmäßig größten und auf polnischem Territorium ältesten Gruppe – der „Polska Roma“ – war damals der legendäre Felek. Roman Kwiatkowski, der Restaurantbesitzer aus der von der Mafia terrorisierten Stadt Chrzanów, erzählte mir vor zwei Jahren von ihm: „Felek hat uns vor der ‚Kommune‘ gerettet. Unter der Androhung schweren Gesichtsverlustes verbot er den Eintritt in die Partei und andere Gadji-Organisationen. Er sagte, man sollte nicht in einem staatlichen Betrieb arbeiten. Deshalb kauften manche von ihnen bei Polen in der Stadt Wolle für Anzüge oder Seide und verkauften sie auf den Dörfern. Heute nennt man das Unternehmungsgeist, damals drohten dafür Paragraphen. Ich kenne einen Alten, den hat man 28 mal wegen Hausiererhandel eingesperrt.“

Die Ansiedlung löste vorhersehbare Folgen aus. Die Roma wollten zum erstenmal Immobilien haben: sie kauften Gräber und ansehnliche Grabsteine. Ihre kleinen Fiats tauschten sie mit der Zeit gegen Škodas, die Škodas gegen Volkswagen. Sie erwarben Fernseher und automatische Waschmaschinen. Viele waren in Geschäften unterwegs, auch über die Grenze hinaus. Autos, Teppiche, Antiquitäten – damit handelten sie. Schließlich begannen die reichsten Roma Häuser hinzustellen, die in der Größe an französische Schlösser erinnerten, für gewöhnlich an Ausfallstraßen. Sie versteckten ihr Geld nicht, sondern zeigten es offen, und das gefällt den Leuten in Polen nicht. Um so weniger, als zu der gleichen Zeit die Polen vor leeren Läden Schlangen bildeten. Die „Solidarność“ rief damals zu Streiks und Hungermärschen auf, der Kriegszustand rückte näher. Die Roma hatten damit nichts gemein.

Die Stadt Oświęcim/Auschwitz liegt gut 10 km von Chrzanów entfernt. Früher wohnten dort zahlreiche Roma-Familien, jetzt nur drei. Am 21. und 22. Oktober 1981 rechnete ein wütender Pöbel mit den Roma ab. Der Anlass war – wie gewöhnlich bei einem Pogrom – geringfügig. Es begann mit einer zufälligen Schlägerei zwischen einem Polen und einem Roma und endete damit, dass Roma-Häuser angezündet und Autos im Fluss Soła versenkt wurden.

Während der Vorfälle bildete sich ein Straßenkomitee, das die Vertreibung der Roma aus der Stadt forderte. Die Behörden erkannten diese Vertretung an und führten mit ihr Gespräche. Über 100 Roma wurden entfernt. Sie fuhren nach Schweden und in die BRD. Ein Teil erhielt keine Pässe, nur Ersatzpapiere, die zur Fahrt in eine Richtung galten. Sie trugen den Hinweis, dass der Besitzer nicht Bürger der Volksrepublik Polen sei. Unter ihnen befand sich Roman Kwiatkowski, der gerade von Chrzanów nach Auschwitz umgesiedelt war.

Bald behandelte man die Menschen aus der polnischen demokratischen Opposition ähnlich. Darüber wurde in Polen viel gesprochen. Aber von den Roma wusste niemand etwas.

Die erste Roma-Gruppe verließ Auschwitz am 13. Dezember 1981 – dem Tag, an dem der Kriegszustand verhängt wurde. Viele wollten später zurückkehren, man erlaubte es nicht. Manche kamen in Särgen. Sie hatten darum gebeten, auf dem Friedhof in Auschwitz beerdigt zu werden.

Erst nach den Juni-Wahlen 1989, als der Kommunismus in Polen gescheitert war, meldete sich in Auschwitz die erste der vertriebenen Familien an. Es war Kwiatkowskis Familie. Später erklärte er mir diese Entscheidung so: „Ich wollte in Polen leben, das ist meine Heimat. Ich wollte zeigen, dass ich mich von anderen nicht unterscheide. Auch ich habe ein Recht auf diese Stadt.“ Heute hat die Roma-Jugend von Auschwitz einen Grund, stolz zu sein. Ewelina studiert Amerikanistik, Aśka Ethnologie, Sylwia ist mit dem Chemiestudium fertig. Die jüngeren besuchen die Schulen, was man früher vermieden hat. Die Lebenswege der Polen und Roma beginnen sich anzunähern. Manche behaupten, das gehe zu langsam. Sie denken dabei nicht an jenen Akt des Unrechts.


Die Stadt Mława nordwestlich von Warschau. Zehn Jahre nach den tragischen Ereignissen in Auschwitz überfährt ein halbwüchsiger Roma im Juni 1991 mit dem Auto zwei junge Menschen. Der überfahrene junge Mann stirbt, das Mädchen bleibt behindert. Zwei Tage später verwüstet eine betrunkene Menge reiche Villen der Roma. Entgegen dem Gerücht, das zu diesem Aufruhr geführt hat, hat der Vater des Täters die Staatsanwaltschaft und die Polizei nicht bestochen. Er war es, der seinen Sohn aufs Polizeirevier brachte.

Das Pogrom in Mława wurde heftig kritisiert, verurteilt, Soziologen forschten nach den Quellen des Hasses. Aber die wichtigste Konsequenz war eine andere. Die Roma fühlten, dass sie sich selber verteidigen müssen, dass Demokratie auch für sie da ist. Roman Kwiatkowski hat das so in Erinnerung: „Nach (den Ereignissen in) Mława wurde es ungemütlich. In der Zeitung las ich von Andrzej Mirga: Ein gelehrter Roma! Bei Gott, so was gab es! Ich habe nur ein paar Klassen hinter mich gebracht wie die meisten. Ich suchte ihn in der ganzen Krakauer Universität, schließlich hatte ich Glück. Ich sagte zu ihm: Andrzej, du bist klug, rate mir, wie wir eine gute Organisation machen. Er freute sich. Es ging uns um das gleiche: dass die Roma im freien Polen dessen Bürger sind.“

So entstand die Vereinigung der Roma in Polen mit Sitz in Auschwitz – die erste unabhängige Roma-Organiation. Das Einverständnis zu ihrer Gründung gab der Chef der Gruppe „Polska Roma“, Siero Rom. Heute gibt es bereits einige Dutzend ähnlicher Vereinigungen. Es erscheinen zwei Roma-Zeitschriften. In Auschwitz wurde ein Historisches Roma-Institut errichtet, seine wesentlichste Aufgabe ist die Dokumentation der Vernichtung. Die Roma ziehen daraus großen Nutzen – sie bekommen Zeugnisse, die sie für Entschädigungen brauchen. Am 2. August 2001 waren 57 Jahre seit der Liquidierung des „Zigeunerlagers“ in Brzezinka/Birkenau vergangen. Im Museum Auschwitz-Birkenau wurde an diesem Tag eine Dauerausstellung eröffnet, die den Holokaust an den Roma dokumentiert. An ihrer Ausgestaltung beteiligten sich Roma-Organisationen vor allem aus Polen und Deutschland. Dank dieser Ausstellung wird – nach Jahren des Vergessens – die Ausrottung der Roma in das historische Gedächtnis Europas eingeschrieben. Wie viele sind während des Krieges umgekommen? Nicht einmal das wissen wir. Nur Schätzungen sagen etwas über deren Tod aus. In Europa wurden 30 bis 50 % aller Roma ermordet.

Viele Jahre hat man sich an ihr Drama nicht erinnert. Endlich, in den achtziger Jahren, haben sie selber die Erinnerung daran geweckt. Dieses Drama wurde zum Sauerteig eines ethnischen Erwachens für eine Gemeinschaft, die in der Zerstreuung lebt und weder durch eine einheitliche Sprache noch einen Glauben verbunden ist. Allen gemein ist nur das Bewusstsein des Holokaust. Er gibt heute den Roma die Kraft, für politische Gleichberechtigung und Anerkennung ihrer kulturellen Eigenart zu kämpfen.

Immer am 2. August treffen sich die polnischen Roma an dem bescheidenen Denkmal in Birkenau mit ihren europäischen Brüdern. Sie halten es für ihre besondere Aufgabe, das Gedächtnis an die Opfer zu pflegen.


In Polen leben etwa 20.000 Roma. Für die meisten von ihnen gelten noch immer die mündlich tradierten Gesetze und Verhaltensnormen, eine Art Kodex. Ein Bekannter aus der Gruppe „Bergitka Roma“ erzählte, wie er diesen Kodex von Freunden aus der „Polska Roma“ gelernt hat: „ ... Am Tisch geht der Junge zum Ältesten und küsst ihm die Hand. Und er fragt, ob er sich in seiner Gesellschaft setzen darf. Und der Ältere erlaubt es oder nicht. Und der Junge muss sich damit abfinden. Oder das Gerichtswesen der Roma. Da hat jemand einem anderen das Auge ausgeschlagen. Vom polnischen Gericht würde er Bewährung bekommen, bei den Roma gibt es keine Bewährung. Die Ältesten haben sich beraten und das Urteil verkündet. Niemand zeigt eine abweichende Meinung.“

Die Roma gründen legale Firmen: Restaurants, Großhandlungen, Tankstellen. Langsam begreifen sie, dass sie Bildung brauchen. Es ist schon dumm, wenn sie mit einem Koffer voll Geld herumlaufen, weil sie nicht wissen, wie man eine Überweisung oder einen Scheck ausfüllt. Sie empfinden Bildung als Chance. Ohne sie ist man zweitrangiger Bürger.

Und doch ist der Zustand von Bildung und Erziehung noch katastrophal. Nur die aufgeklärten Roma schicken ihre Kinder in die Schulen. Die übrigen schätzen Bildung gering oder wollen den Kindern Demütigungen ersparen. Auf die Schulpflicht sind die kleinen Roma bedeutend schlechter als ihre polnischen Klassenkameraden vorbereitet.

Zahlreiche Erwachsene fürchten, die Bildung könnte die Identität beschädigen. Sie meiden sie, um ihre tradierten Gesetze und Verhaltensnormen zu retten. Außerhalb des Waldes ist es schwierig, diese weiterzugeben. Unter den Bedingungen der Demokratie, in einer Welt der Medien müsste man manche seiner Prinzipien revidieren. Vor diesem Hintergrund kommt es zu Konflikten. Roman Kwiatkowski erklärte mir das so: „Wir verlieren uns. Die Ältesten sind nicht in die Partei eingetreten, sie haben durchgehalten. Jetzt sind sie schwach. Den Alten fehlt Standhaftigkeit, weil sie sich selber unsicher fühlen. Sie wollen zum Arzt gehen, nicht aber kämpfen. Sie haben Kummer mit meiner Generation. Wir stellen Anforderungen an sie. Wir wollen, dass unser Recht scharf sei und rigoristisch beachtet werde. Wenn Schuld vorliegt, muss Strafe sein. Was wird aus uns, wenn das Chaos herrscht? Werden wir den Kindern unsere mündlich tradierten Gesetze und Verhaltensnormen überliefern? Vielleicht nur das polnische Recht. Dann bleibt uns vom Zigeunertum nur die dunkle Haut. Dieses unser Altes Testament lässt sich in die heutige Welt übersetzen.“

Aber diese Aufgabe reicht über eine Generation hinaus. Es braucht Zeit, damit die bewussten und gebildeten Roma die demokratischen Privilegien nutzen. Noch immer gibt es in Polen aus den Reihen der Roma keinen Abgeordneten, keinen Schriftsteller, keinen Arzt, keine Fernsehansagerin.

Der Krieg, den Roman Kwiatkowski den Gangstern erklärt hat, war erfolgreich. Mehrere Restaurantbesitzer haben sich entschlossen, auszusagen. Beretta wurde verhaftet, seine Schläger auch. Die hilflosen Polizisten wurden entfernt.

Man muss sich über das freuen, was schon erreicht wurde.

Aus dem Polnischen übersetzt von Wolfgang Grycz.


Fußnote:


  1. Gadji – verächtlich für Nichtzigeuner und freiwillig sesshaft gewordene Roma (vgl. auch die Hinweise im Beitrag von Kajo Schukalla im vorliegenden Heft, oben S. 88). ↩︎