Im Schatten des Reaktors

(Reportage)

Galina Strockaja und Bruder Korneliusz Konsek SVD sind Mitarbeiter der Redaktion der von den Steyler Missionaren in Baranowiczi herausgegebenen Monatszeitschrift „Dialog“. Christoph Mühl (Übersetzer) war in den Jahren 2002-2003 als Missionar auf Zeit in Baranowiczi tätig.

... In einer kleinen Scheune arbeiteten, in gleiche Arbeitskittel gekleidet, ein Mann und eine Frau an einer der größten Entdeckungen des 20. Jahrhunderts. Die Welt erfuhr von ihnen Ende des Jahres 1903, als auf einer Festsitzung in Stockholm öffentlich bekannt gegeben wurde, dass der Physiknobelpreis in diesem Jahr dem Ehepaar Curie für die Entdeckung auf dem Gebiet der Radioaktivität überreicht ...
(Auszug aus dem Bericht über das Ehepaar Curie „Gewöhnliche Strahlung“)

Radioaktiver Strich auf dem Schicksal

„Wir waren den ganzen Tag draußen, haben Kartoffeln sortiert, mein kleiner Enkel lief in der Nähe“ – Josefa Nikolajewna Witskowskaja aus dem Dorf Gruschowka in der Narowljaner Region braucht sich nicht an jene Tage zu erinnern, als die Katastrophe im Atomkraftwerk von Tschernobyl passierte, alles ist frisch im Gedächtnis. „Wir wussten natürlich nicht, was geschehen war, doch als es offiziell bekannt gegeben wurde, haben wir uns nicht wirklich vorstellen können, welche Gefahr diese Strahlung in sich trägt. Selbstverständlich kam Furcht auf. Die Kinder wurden weggebracht. Wohin?, fragten wir. Man antwortete uns, man würde sie in saubere Regionen bringen. Wie viel Mühe hat es uns dann gekostet, um heraus zu finden wo die Kinder sind! Außerdem brachte man Frauen und kleine Kinder getrennt von den älteren Kindern weg. Es ist furchtbar, sich daran zu erinnern …“ In den Augen von Josefa Nikolajewna stehen Tränen. Die Tochter Soja kommt, um sie zu trösten, aber auch sie muss weinen.

„Sie können sich gar nicht vorstellen, was geschah! Wir wurden nach Grodno gebracht. Am Bahnhof begrüßte man uns mit einem Orchester. Doch ist man vor uns wie vor dem vierten Reaktor selbst geflohen. Niemand hat sich getraut, uns nahe zu kommen; wenn wir in ein Geschäft hinein gingen, gingen die anderen Leute raus. Bei allen schwangeren Frauen wurden Abtreibungen vorgenommen oder künstliche Geburten hervorgerufen, ungeachtet der Frist und ohne ihr Einverständnis. Man schickte uns von einem zum anderen Ort, Leute kamen, um uns wie Museumsexponate zu betrachten. Seid ihr aus der Tschernobylzone?, fragte man. Ihr seht ganz normal aus, dabei sagt man doch, dass Euch Arme und Beine abfallen oder unnötige wachsen.

Also was, Töchterlein, die Leute hatten ihre Gründe, so zu urteilen. Wir wurden weiter weg gebracht, und in Gruschowka wurden jene, die direkt neben dem Reaktor lebten, angesiedelt. In unserem Haus blieb eine Familie aus Bjelaja Worona, einem Dorf 10 Kilometer von der Stadt Pripjat entfernt, wo sich der vierte Reaktor befand. Nach den Umsiedlern folgten Ärzte, um den Wert der Strahlung im Haus zu messen. Sie sagten, dass der Wert in einigen Zimmern ein bisschen höher als erlaubt sei, in einem Zimmer jedoch sehr hoch. Dies war genau das Zimmer, wo die Umsiedler vorübergehend untergekommen waren, dort lagen ihre Sachen.“

Des Einen Not, des Anderen Beute

Das Dorf Buk wurde von allen und für immer verlassen. Am 7. Mai 1986 zogen alle aus. In Eile verlassene und ausgeraubte Häuser erinnern heute noch an die vergangene Tragödie. Plünderer holten nicht nur Haushaltswaren raus und brachten sie weg, sondern auch Türen, Fenster und Dächer. Man sagt, dass die Zeitungen des Gomeler Gebiets in den ersten Jahren nach der Katastrophe gefüllt waren von vielfältigen Kleinanzeigen: „Gebrauchtes Baumaterial zu verkaufen“. Eben diese gebrauchten Baumaterialien stammten aus der Zone: des Einen Not, des Anderen Beute. Für die, welche sich auf Kosten des schweren Leids bereicherten, war es egal, dass eben jene Ziegelsteine, Blöcke, Dachziegeln todbringende Radioaktivität ausstrahlten.

Heute, 17 Jahre später, erinnern die verlassenen Häuser in der Zone und im Umland an die Nachkriegszeit. Man hat den Eindruck, dass noch vor kurzem hier bombardiert wurde. Das zerstörte Grundschulgebäude: weder Fenster noch Türen, lediglich Lehrbücher sind verstreut an verschiedenen Orten. Man hat es nicht geschafft in der Eile, alle landwirtschaftlichen Geräte abzutransportieren. Zwei Mähdrescher der Marke „Niwa“, genauer gesagt das, was von ihnen übrig blieb, ruhen bis zum heutigen Tage auf dem Feld eines ehemaligen Bauernhofes.

Entlang der Straße findet man andere Dörfer leer und zerstört. Fünf Kilometer von Gruschowka entfernt war ein Sanatorium für Frauen. Das Gebäude wurde auch buchstäblich innerhalb von einer Woche evakuiert. Eine ganze Stadt mit 15.000 Einwohnern war gestorben. Danach legten die Plünderer Hand an sie. Dieses Sanatorium verwandelte sich in Ruinen, sogar der Stacheldraht wurde geklaut.

Leben mit dem Mut der Verzweiflung

Viele evakuierte Dörfer sehen noch schlimmer aus, von ihnen ist keine Spur mehr zu sehen – nur Brandflecken. Irgendjemand zündet leere Dörfer an, entweder ein zufällige Person, welche in diesem Gebiet nicht einfach zu finden ist, oder es wird absichtlich gemacht, um jede Spur von dieser Tragödie zu verwischen.

Endlich sieht man einem bewohntes Dorf. Es trägt den Namen Kirow. Eine große Ansiedlung, jedoch blieben nur wenig Leute, jedes zweite Haus ist vernagelt. In der Mitte des Dorfes steht ein mobiler Laden, der in fester Ordnung zweimal pro Woche die Dörfer, die zur Zone gehören und darum herum liegen, anfährt. Selbst wenn dort nur ein Mensch wohnt, kommt der mobile Laden vorbei. Für die von der Zivilisation abgeschnittenen Leute ist dieses Geschäft auf Rädern ein echter Segen.

„Wie wir hier leben? Gut! Was sollen wir sonst tun? Sich umsiedeln lassen? Aber man schickt uns schon gar nicht mehr weg. Man sagt, dass es verboten ist, aus unseren Gärten zu essen. So leben wir, solange wir nicht sterben.“

Den Pessimismus im Blick auf die Zukunft teilen auch die Jugendlichen, die in Kirow wohnen. „Wir leben hier, weil man irgendwo leben, arbeiten und Kinder groß ziehen muss. Selbst wenn die Kinder krank sind. Aber wenn man nicht gebiert, wozu dann leben? Mit Lebensmitteln ist es schwierig. Nach Narowlja zu gelangen ist nicht einfach, der Bus fährt nur einmal in der Woche, und der mobile Laden bringt nur einen begrenzten Umfang an Waren. Wir züchten in unserem Garten Kartoffeln und Gemüse. Im Herbst nehmen Spezialisten Proben auf jedem Hof, und der Landwirtschaftsrat setzt uns in Kenntnis, was man essen darf und was verboten ist. Von zehn Produkten, welche bei mir im vergangenen Jahr geprüft wurden, erwiesen sich acht als ungenießbar. Was soll man machen? Etwas haben wir weggeworfen. Und einiges haben wir gegessen. Im kommenden Frühling bepflanze ich das Feld neu“, sagt eine junge Mutter namens Anja. „Kühe dürfen wir auch nicht halten, doch einige halten welche und trinken Milch.“

„Dummheit ist all das Gerede in Bezug auf die Radioaktivität!“ meint der einzige Bewohner des Dorfes Bely Bereg, Sergej Borisowitsch Artjuschenko. „Man hat uns alle hier weggebracht, also fuhren wir weg, sieben Jahre zogen wir durch die Welt, und dann habe ich es nicht mehr ausgehalten und bin zurückgekehrt. Nirgends wird es besser werden, als zu Hause. Übrigens kamen aus der Hauptstadt Spezialisten zu uns hierher und haben uns gesagt, dass die Strahlung hier nicht höher sei als in Narowlja. So lebte ich hier, lebe hier und werde hier leben. Mein Sohn und meine Enkel vergessen mich nicht, sie kommen öfter aus Minsk zu Besuch.“

Noch vor zwei, drei Jahren war der Zutritt zu Bely Bereg verboten; dort stand ein Posten der Miliz. Aber das Budget der Regierung wird kleiner, es gibt kein Geld, Leute zu bezahlen, und so verschob sich die Grenze der dreckigen Zone um einige Kilometer weiter, was leider nicht bedeutet, dass sich die ökologische Situation verbessert hätte.

Hier blieben nur die Toten am Leben

6.Mai, 8.30 Uhr. Ein angenehm warmer Morgen, 17 Jahre „nach Tschernobyl“. Die Natur duftet einfach. Sollte dies etwa auch eine Wirkung der Strahlung sein, hilft sie, die tückische, vielleicht dem Frühling außergewöhnlich schön zu sein?

„Natürlich, man kann an einem Tag in unseren Wäldern bis zu 30 Kilogramm Pilze sammeln und sie dann für einen angemessenen Preis bei einem Händler abgeben. Sie nehmen es, ohne auf den Wert der Radioaktivität zu achten“, sagt Pfarrer Viktor Waltschina aus Narowlja, bei dem wir für eine Nacht unterkommen konnten. „Auch Fische gibt es im Fluss Pripjat zuhauf, aber fischen dürfen nur die Leute, die Zugang zu der Zone haben.“ – „Wozu brauchen sie radioaktive Fische?“ – „Zum Verkauf!“

Heute ist Raduniza, die Zufahrt zur Zone, geöffnet. Und wir machen uns auf den Weg. Ein gleichgültiger Milizionär notiert unser Autokennzeichen und lässt uns passieren. Ganze 20 Kilometer Fahrt in der Zone – Leere: Die Dörfer sind niedergebrannt und zerstört, so dass von ihnen keine Spur mehr blieb. Nur Wald, der selbst wuchs, der gepflanzt wurde. Da kommt einem der Gedanke in den Sinn: Uns gab es nicht – da gab es Wald, uns wird es nicht geben, Wald wird es geben. Endlich erreicht man ein unbeschädigtes Dorf, Dernowitschi: unversehrte Häuser – gleich dahinter ein Bild aus einem Horrorfilm: verbrannte Erde, schwarze, gekrümmte Bäume, eingefroren in bizarren Positionen. Nein, das hat nicht das Feuer gemacht, es war die Radioaktivität. Im Laufe von 17 Jahren konnte hier nur Moos wachsen.

Im Brennpunkt der Hölle leben

Das Dörfchen Bely Soroki ist Ziel unserer Reise, es ist sofort und völlig evakuiert worden. Hier blieben nur die Verstorbenen am Leben. Heute sind Menschen da. „Das passiert nur einmal im Jahr“, erklärt uns unser Führer, „in der übrigen Zeit herrscht hier Totenstille.“

Es stellt sich heraus, dass der Friedhof in der Zone das einzige ist, was „am Leben blieb“. Bis heute werden Leute beerdigt, die hier lebten, aber nach der Katastrophe im Atomkraftwerk weg gezogen waren. Sie wünschen sich, wenigsten nach dem Tod in die Heimat zurück zu kehren und dort die ewige Ruhe zu finden. Der Friedhof ist im Gegensatz zu den Dörfern selbst gepflegt. Die Hand der Plünderer hat bis hierhin nicht gereicht. Auf den Gräbern stehen eingegossene Wodkagläser, Vögel picken Brotkrumen, und die Gräber glänzen in einem Feuer von Kunstblumen.

In nachdenklicher Stimmung ziehen wir durch das Dorf. Und plötzlich spricht uns jemand an: „Seien Sie gegrüßt!“ – „Guten Tag“, antworte ich, „Haben Sie früher hier gelebt?“, frage ich ohne Hoffnung auf eine Sensation, eher, um das Gespräch mit dem einzigen erschienenen Menschen zu halten. „Warum früher? Ich lebe jetzt auch hier. Schon seit sieben Jahren“, antwortet die Frau lächelnd. – „Wie? Direkt im Brennpunkt der Hölle? Hier sind doch sogar Erde und Bäume vor 17 Jahren gestorben!“ – „Mein Mann und ich lebten zu dieser Zeit auch nicht hier. Wir sind vor sieben Jahren hierher zurückgekehrt und leben seitdem hier.“ – „Machen Sie Witze?,“ setze ich dieser ein wenig angetrunkenen Dame mit lackierten Fingernägeln entgegen. „Nein doch, ich zeige ihnen sofort mein Haus.“ Und wirklich führt sie uns zu ihrem Haus. Die Bewirtung lehnen wir ab, doch in das Haus werfen wir einen Blick: das Bettzeug liegt offen, Töpfe, Tassen, Tische und Stühle. „Mein Wanja ist hier geboren, daher beschloss er nach Hause zurück zu kehren, er möchte nicht in Narowlja leben, wo ich eine Wohnung habe. Hier wohnen wir. Schauen Sie, was für eine Schönheit um uns herum!“, zeigt Helena mit den Armen. Wir haben uns schon bekannt gemacht, aber ich kann nur schwer glauben, dass man hier leben kann und vor allem leben muss. In wessen Namen, wozu, warum und wie konnte die Regierung das erlauben?

Helena schlägt vor, einen Spaziergang zum Pripjat zu machen, wo sie ein Boot und Netze haben. All dies ist sie bereit, gern zu zeigen, aber sie hat Angst, dass Wanja vor unseren Augen auftaucht. Unter der heißen Maisonne schmilzt die Wirtin der Zone, Alkohol löst ihre Zunge, die Situation wird allmählich klarer. Es stellt sich heraus, dass Wanja mehrfach vorbestraft ist und er keine Papiere hat. Deswegen wohnt er in der Zone. Heiße Liebesgefühle zur Heimat haben damit überhaupt nichts zu tun. Im Übrigen ist es sehr bequem hier, Schnaps zu brennen – der Ort entlegen, unbewohnt, Zone halt. Außerdem hat es Helena geschafft sich mit der Bekanntschaft zu soliden Polizeidienstgraden zu brüsten.

„Welch einen Unterschied macht es, wo und wann man stirbt? Hier durch die Radioaktivität oder in der sauberen Zone durch die Krankheit? Das Ende ist bei uns allen gleich“, fasst Helena zusammen.

Der ins Feuer steigt

26.April 1986. Wasja Ignatenko hatte Wachtdienst. Er arbeitete bei der Pripjater Feuerwehr, war für den vierten Reaktor zuständig. Als das Feuer ausbrach, war er einer der ersten, der in das radioaktive Feuer ging. Er war 25, seine Frau erwartete ein Kind.

Am 27. April war Wassilij schon in der sechsten Klinik des Moskauer Instituts für Biophysik. Keiner der Verwandten wusste etwas, und Wassilij lag im Sterben, er hatte einen äußerst schweren Grad der Strahlenkrankheit.

Zwei Tage später erhielt Familie Ignatenko, die im Dorf Spergie im Braginer Gebiet lebte, ein Telegramm aus dem fernen Moskau mit der Nachricht, dass sich ihr Sohn und Bruder in einem schweren Zustand befinde. Die Verwandten fuhren sofort dorthin, ohne eine Adresse in den Händen zu haben. Der Taxifahrer, den sie am belarussischen Bahnhof genommen hatten, half ihnen, den Jungen zu finden. Er verstand die Situation und hatte Mitleid mit den Provinzlern. Er fuhr durch ganz Moskau auf der Suche nach dem richtigen Institut, und solange er es nicht fand, ließ er sie nicht aussteigen.

Das, was die Ignatenkos in der Klinik sahen, hat sie schockiert! Der Junge war bedeckt mit sogenannter schokoladenfarbiger, Kernbräunung, die Haut löste sich in Fetzen ab. „Man hat uns sofort gewarnt, dass man Wassilij weder küssen noch umarmen darf“, erinnert sich seine Schwester Ludmilla. „Er benötigte dringend eine Knochenmarktransplantation. Man nahm von uns eine Analyse. Mehr als die anderen kam die jüngste Schwester Natascha für eine Spende in Frage. Aber als der Bruder davon hörte, lehnte er es kategorisch ab. Er sagte, mich rettet ihr, aber ein dreizehnjähriges Mädchen richtet ihr zugrunde. Die nächste war ich. Ich war 28. Natürlich stimmte ich zu. Als ich nach der OP zu mir kam, konnte ich auf meinem Körper 15 Löcher zählen. Mit mir und meinem Bruder führte man ein Experiment durch. Ich nehme es den Ärzten nicht übel. Sie wussten, dass Wasja nicht gerettet werden konnte, aber für die Wissenschaft und für andere Leute taten sie doch etwas Gutes. Am 2. Mai wurde die Knochenmarkstransplantation bei meinem Bruder durchgeführt. Mich kurierte man und entließ mich aus dem Institut. Zehn Tage später kam in Spergie das nächste Telegramm an: Aus dem Institut für Biophysik wurde berichtet, dass sich Wassilij Iwanowitsch Ignatenko in einem äußerst schlechten Zustand befinde. Die Mutter, die Schwestern und der Bruder fuhren erneut hin. Am 13. Mai verstarb er. Keiner der ersten sechs Feuerwehrmänner blieb am Leben. Wassilij Ignatenko war der einzige Weißrusse in dieser Mannschaft, die anderen waren ukrainische Staatsbürger.“

„Alle sechs wurden in Moskau auf dem Mitinski-Friedhof beigesetzt“, erzählt Ludmilla. „Ihre Körper haben sie den Verwandten einfach nicht überlassen, mit der Begründung, dass verstorbene Feuerwehrmänner Staatsbeamte seien und für ihre Beerdigung als Helden der Staat zuständig sei. Wassilij erhoben sie posthum in den Ruf eines Helden, doch diesen Titel haben wir sowieso nicht erhalten. Irgendwer da oben hat seine Kandidatur zunichte gemacht. Uns blieb nur die Erinnerung. Leider verstarb Wassinas Tochter innerhalb von drei Tagen nach der Geburt. Wahrscheinlich unter dem Einfluss der Radioaktivität, außerdem durchlebte die Mutter in der Schwangerschaft solch eine Tragödie – den furchtbaren Tod ihres Mannes.“ Direkt im Zentrum von Bragin auf dem Platz steht ein Denkmal für Wassilij Ignatenko.

Wer vor der Strahlung flieht und wer ihr entgegengeht

Bragin, wie das ganze Gomeler Gebiet, begrüßt uns mit der Wärme und den Farben des Frühlings. Freundlich blühen Tulpen auf dem Hauptplatz. Riesige große Blumenflecke entzücken uns nicht, eher bringen sie uns zum Zittern, erinnern an Blut. Buchstäblich nur einen Kilometer vom Zentrum des Ortes, wo vor der Katastrophe 10.000 Einwohner siedelten, aber jetzt nur 4.000 geblieben sind, fängt die Zone der radioaktiven Verschmutzung an. Eine Schranke zeigt die Einfahrt an: links – Zone, rechts – Siedlung.

Man hat den Ort 1986 nicht vollständig umgesiedelt, nur weil es nicht möglich war, sofort so viele Leute zu evakuieren. Nur in dem nicht so großen Braginer Gebiet wurden sieben Dörfer vollständig ausradiert – 25 evakuiert. In Bragin steht bis heute jedes zweite Haus leer. Und außerdem haben die Einwohner der verseuchten Gebiete gelernt, mit ihrer Not zu spekulieren. In eben diesem Bragin wohnen Leute, die als Umsiedler eine Wohnmöglichkeit in anderen Städten der Republik zugewiesen bekamen, diese aber entweder vermieteten oder verkauften und selbst wieder in Bragin leben.

„Wegen denen gibt es in der Siedlung nicht wenige Warteschlangen auf Wohnungen“, sagt Larissa Legkaja, Buchhalterin, Mutter von zwei Kindern. Sie kam vor wenigen Jahren mit ihrem Mann nach Bragin. Was führte junge Leute zu dieser Entscheidung? „Wohnmöglichkeit und Arbeit“, antwortet Larissa. „In Bragin kann man bis heute eine kostenlose Wohnung bekommen und einen Job finden.“ Aber die radioaktive Strahlung? „Man sieht sie nicht, und so leben wir. Natürlich, auch die Kinder leiden. Sie sind die einzigen hier – und das nur bis zum dritten Lebensjahr – die eine Tschernobylzuzahlung erhalten, für die anderen wurde sie längst abgeschafft, es ist so lang her, dass wir uns nicht erinnern, wann genau. Man kümmert sich um die Kinder, dreimal im Jahr fahren sie zur Erholung weg, einmal unbedingt ins Ausland. Wahrscheinlich locken diese Vergünstigungen die Leute hierher. Wir haben hier viele Zugereiste, Jugendliche und Kinder. Weder im Kindergarten noch in den Schulen gibt es Plätze.“

Das sind die Paradoxien des Lebens. Vor 17 Jahren ist mehr als die Hälfte der Einwohner von Bragin vor eben dieser Strahlung davon gelaufen, und jetzt kommen Leute ihr entgegen, weil man aus ihr, der Radioaktivität, wie es sich zeigt, Vorteile herausholen kann – materiellen Nutzen. Wohnung, Arbeit, so genannte „Grobowie“ (Geldzahlungen), welche allein den Kindern geblieben sind. Ist das nicht furchtbar? Ist es nicht furchtbar, dass in der Nähe, ganz in der Nähe der Zone, lediglich eine Schranke, ein einfacher Holzbalken, das Tote vom Leben trennt?

„Wir haben uns daran gewöhnt, haben durchgehalten und leben“, fasst Vera Pawlowna Sokina, eine Alteingesessene von Bragin, zusammen. „Ja, wir sind krank. Die Beine schwellen an und lassen sich schwer bewegen, Kopfschmerzen, aber wir leben, obwohl es paradox ist. Es sind diejenigen gestorben, die damals wegfuhren. Sie konnten im fremden Land nicht durchhalten und gaben ihre Seelen schneller als nötig zu Gott. Und Ihr könntet hier auch nicht leben, für Euch ist alles ungewohnt, selbst die Strahlung würde Euch schneller auffressen, weil unser Organismus sich bereits an sie gewöhnt hat, sich angepasst hat. Schauen Sie nur, wie viele Kinder hier sind!“

Ja, natürlich, hat jeder das Recht, selbst zu entscheiden, wo und wie er leben will. Aber Gesundheit und Leben selbst kann man für kein Geld der Welt kaufen! Daher liegt es in der Verantwortung der älteren Generation, wie die jüngere Generation aufwächst.

„Wollen Sie in der Zone leben – bitte sehr! – Wir geben Ihnen kostenlos eine Wohnung. Und damit die Felder zwei Schritte entfernt von der Zone nicht leer stehen – säen wir sie ein, backen dann Brot, und das Volk isst es“, verabschieden uns die Leute bitter aus dem Gomeler Gebiet. Irgendwo ließ man Kolchosen wieder aufleben und das Vieh weiden, das ohne Beurteilung radioaktive Gräser frisst. Sollte es wirklich wahr sein, dass mit der Halbwertszeit der stark radioaktiven Metalle auch für Gesetze und Menschlichkeit eine Halbwertszeit angebrochen ist?

... Mit jedem Tag ähnelt das Blut von Madam Curie mehr dem Wasser, es weigert sich, seine natürlichen Funktionen zu erfüllen. Die Ärzte ahnen noch nicht, dass es das Radium, das schöne und das tückische, ist, das seine Herrin lebendig verbrennt. Sein erstaunliches Licht, das sie bewunderte und von dessen Tücke sie nur viele Jahre später begann zu ahnen, raubte jetzt ihr Leben ... (Auszug aus dem Bericht über das Ehepaar Curie „Gewöhnliche Strahlung“)

Deutsch von Christoph Mühl.