Sankt Petersburg – Stadt der Brücken

aus OWEP 2/2012  •  von Regina Elsner

Regina Elsner ist Diplomtheologin und arbeitet im Forschungsprojekt „Institutionen und institutioneller Wandel im Postsozialismus“ an der Universität Münster. Von 2005 bis 2010 hat sie als Mitarbeiterin der Caritas in Sankt Petersburg gelebt und gearbeitet.

Zusammenfassung

„Venedig“ oder „Amsterdam des Nordens“ wird die glanzvolle Stadt an der Newa oft genannt, und in der Tat spielen Wasser, Kanäle und Brücken eine große Rolle in der Geschichte Sankt Petersburgs und prägen bis heute sein Bild. Viele Brücken haben eine wechselvolle Geschichte, die sich oft in wiederholten Umbenennungen wiederspiegelt. Ihre Anziehungskraft für Bewohner und Touristen ist bis heute ungebrochen.

Die Newa hüllte sich in Stein;
die Wasser überspannen Brücken.“ A.S. Puschkin, Der eherne Reiter

Sankt Petersburg wird nicht selten mit Venedig oder Amsterdam verglichen – eine Stadt, in der Flüsse, Kanäle, Wasser und Brücken mehr sind als zufällige geographische oder infrastrukturelle Gegebenheiten. Stimmt der Vergleich? Zweifellos, mag man bei einem kurzen Aufenthalt denken. Wasserläufe und Brücken prägen das Stadtbild, als Tourist ist eine Bootsfahrt auf den Flüssen und Kanälen der Stadt Pflichtprogramm, und man findet kaum ein Foto- und Postkartenmotiv ohne Brücke oder Wasser. Amsterdam diente den Erbauern der Stadt als Vorbild. An Venedig erinnern der zeitweise undurchdringliche Nebel und die prachtvolle Architektur der Uferstraßen; nicht zuletzt auch die tiefe Liebe des Petersburger Dichters Joseph Brodskij zu Venedig verbindet beide Städte. Und doch hinkt der Vergleich. In Petersburg selbst wird man zum einen nicht müde zu betonen, dass man in der Anzahl der Brücken (Venedig) und Länge der Wasserläufe (Amsterdam) den beiden europäischen Städten weit überlegen ist. Gondeln und Hausboote sucht man vergebens, kein „acqua alta“ überflutet regelmäßig die Stadt. Schließlich ist Sankt Petersburg im Unterschied zu den beiden europäischen Brücken-Städten eine überaus junge und durch und durch geplante Stadt, in der nichts dem Zufall überlassen wurde. Jede Brücke ist ein kleines Kunstwerk, jede scheinbar so überraschende Perspektive wurde von kreativer Hand geplant. Was aber nicht theoretisch ersonnen werden konnte, ist die besondere Atmosphäre, welche diese Architektur erzeugt: Brücken prägen nicht nur das Stadtbild, sondern vor allem das Gefühl, mit dem man sich durch diese Stadt bewegt – zwischen Stein und Wasser, immer ein wenig der bodenständigen Realität enthoben und ein wenig unentschlossen zwischen den Ufern, zwischen Geschichte und Moderne, Ost und West, Politik und Kultur, Wehmut und Lebensfreude.

Brücke in die Geschichte

Peter I. der Große hatte sich viel vorgenommen: Seine neue Hauptstadt sollte an einem Ort entstehen, der aus einigen Inseln in der fast unbewohnbaren Fluss- und Moorlandschaft zwischen Ladoga-See und Finnischem Meerbusen bestand. Der Zugang zur Ostsee war vor allem für die Kriegsführung von großem Vorteil. Darüber hinaus entsprach die Lage im äußersten Westen des großen Russischen Reichs der Faszination Peters für den Westen – das Land sollte nach westlichem Vorbild modernisiert werden, die neue Hauptstadt sollte eine Brücke zu modernem Denken, Bauen und Leben sein. Die Errichtung der Stadt in der versumpften, mückenreichen und im Winter unerträglich kalten Gegend kostete tausende Menschen das Leben. Wegen der zahlreichen Toten wurde später gesagt, die Stadt sei nicht auf Pfählen, sondern auf Skeletten gebaut. Ohne Rücksicht auf Verluste verwirklichte Peter I. seinen Traum von einem Amsterdam an der Newa: eine Stadt der Kanäle, Flüsse, Werften und – Brücken. Je größer die Stadt wurde, um so notwendiger wurden Brücken – über 30 Inseln im Newa-Delta wurden so im Laufe der Zeit miteinander verbunden, um Raum zu schaffen für die neuen Hauptstadtbewohner, für Marine, Regierung, Verwaltung, Kultur und Bildung nach europäischem Vorbild.

Wäre es nach Peter I. gegangen, hätte es nur ein Minimum an Brücken gegeben – das Volk sollte sich die Schifffahrt bis zur Perfektion aneignen. Nach ersten Plänen sollte das Stadtzentrum auf der Wassilij-Insel entstehen, mit einem Netz von Kanälen, Brücken und großen Wasserbecken für die Wendemanöver der Schiffe. Die Idee wurde verworfen, denn die Insel war zu anfällig für Hochwasser und bei Eisgang völlig abgeschnitten vom Festland. Mit dem Bau der Admiralität – der Werft der Stadt – und der Entscheidung von 1710, das Alexander-Newskij-Kloster als geistliches Zentrum der neuen Hauptstadt östlich der Peter-Pauls-Festung zu errichten, verlagerte sich der Stadtbau ebenfalls in diese Richtung. Das Flüsschen Moika war bis 1723 die Stadtgrenze, die „Große Perspektive“ – der spätere Newskij-Prospekt – wurde als Verbindungsstraße durch Moor und Wald zwischen Werft und Kloster gelegt. Später wuchs die Stadt und damit die Anzahl der eingebundenen Flüsse, Kanäle und Brücken. Allein im historischen Stadtzentrum zwischen Newa und Fontanka kann man heute 74 Brücken zählen.

Diese ältesten Brücken sind geradezu ein Spiegel der Stadtgeschichte: Die ersten Brücken waren schwimmende Holz-Konstrukte, die immer so konzipiert waren, dass sie den Wasserverkehr nicht behinderten, der absoluten Vorrang genoss. Unter der Last des zunehmenden Verkehrs zu Land, wegen ihrer Anfälligkeit für Feuer- und Wasserschäden und durch den Traum der Stadtgründer, eine westliche Stadt aus Stein zu errichten, wichen die Holzbrücken zunehmend stabilen Bauwerken aus Granit und Gusseisen. Mit dem Wachsen der Stadt und der Verkehrswege wurden die Brücken oft mehrfach an Straßenbreite und neue Transportmittel (Straßenbahnen) angepasst. Im Verlauf der Geschichte änderten sich außerdem die Namen der Brücken je nach politischer Façon. So wechselte die erste Brücke über die Newa ihren Namen vier Mal: Newskij-Brücke (1843), Blagoweschenskij [d.h. Verkündigungs]-Brücke (1850), Nikolai-Brücke (1855), Leutnant-Schmidt-Brücke (1918) und schließlich seit der Rekonstruktion 2007 wieder Blagoweschenskij-Brücke. Die Troitzkij-Brücke hieß zu Beginn Petersburger Brücke, wurde 1918 zur Brücke der Gleichheit und 1934 zur Kirow-Brücke umbenannt. Die Schlossbrücke hieß zeitweise Brücke der Republik, die Litejnij-Brücke trug wenige Jahre den Namen von Zaren Alexander II., während die Nowo-Konjuschennyj-Brücke von 1975 bis 1998 den Namen des Mörders von Zar Alexander II. trug – Grinewitzkij-Brücke.

Auch in architekturhistorischer Hinsicht gleichen die Brücken einem Lehrbuch. Von der einfachsten Holzbrücke über prunkvoll verzierte Geländer und Skulpturen, elegante Hängebrücken und raffinierte Zugmechanismen bis hin zu modernen Stahlbeton-Konstruktionen, von pittoresken Parkbrücken bis zu mehrspurigen Schnellstraßen repräsentieren sie die gesamte Bandbreite des Brückenbaus. Zu den Höhepunkten dieses „Freiluft-Brücken-Museums“ zählt zum einen die Bank-Brücke, die berühmt ist für ihre geflügelten Löwen-Skulpturen. Ähnlich wie die Figuren der Löwen-Brücke, die nur wenige Meter weiter den Gribojedow-Kanal überquert, verbirgt sich im Inneren der Skulpturen die Halterung der Hängebrücke. In zahlreichen Filmen dienen diese Löwen als Erkennungszeichen und Treffpunkt; sie wurden auch zum Markenzeichen der Petersburger Schokoladenfirma „Krupskaja“.

Die Staro-Nikolskij-Brücke (Alte-Nikolaus-Brücke), erbaut 1784-1786, im Hintergrund die Nikolaus-Marine-Kathedrale mit freistehendem Glockenturm1

Ebenfalls dank ihrer Skulpturen erlangte die Anitschkow-Brücke Berühmtheit. Sie führt den Newskij-Prospekt über die Fontanka, ihre Reiter-Statuen und der leicht erhöhte Ausblick auf den Newskij bis hin zur Admiralität machen sie zum Touristenmagneten. Zahlreiche westliche Architekten durften im Laufe der Geschichte dieser Brücke ihre Handschrift einprägen. Schwäne, Vasen und Obelisken zierten in vergangenen Zeiten den Brückenrand. Der aus dem Baltikum stammende Bildhauer Peter Clodt (1805-1867) wurde mit der Herstellung von Reiterfiguren beauftragt; ihm gelang ein Meisterwerk der naturgetreuen Bronze-Darstellung von Tier und Menschen und zugleich eine beeindruckende Allegorie auf die Bezwingung der Natur durch den Menschen. Mehrere Ausführungen der Bronze-Skulpturen wurden zunächst vom Zaren verschenkt – an den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. nach Berlin, an den König beider Sizilien Ferdinand II. nach Neapel sowie als Park-Kunstwerke in Vororte von Petersburg und Moskau. Erst 1850 wurden die endgültigen Statuen auf der Brücke aufgestellt und haben diesen Ort seitdem nur zwei Mal verlassen: Zur Zeit der Blockade der Stadt während des Zweiten Weltkriegs wurden sie zum Schutz vor Angriffen im Garten des nahegelegenen Anitschkow-Schlosses vergraben, und in den Jahren 2000 bis 2002 wurden sie in Vorbereitung des Stadtjubiläums umfassend restauriert.

Die von dem französischen Architekten Gustave Eiffel mitgestaltete Troitzkij-Brücke mit ihrem fast filigran wirkenden Stahlgerüst beeindruckt durch die Kombination von moderner Architektur und imperialer Dekoration des Geländers. Besonders an frostigen Tagen entsteht durch den millimeterdicken Rauhreif an Metallträgern, Gittern und Laternenhaltern und durch das Knirschen der Eisschollen unter der Brücke eine märchenhafte Atmosphäre. Zu jeder Jahreszeit eröffnet sich von dieser Brücke ein von keinem Objektiv zu fassender einzigartiger Blick, der vom Schlossufer über Eremitage, Admiralität, Schlossbrücke, Spitze der Wassilij-Insel mit Börse und Rostra-Säulen bis hin zur Peter-Pauls-Festung reicht.

Von Farben und Küssen

Zahlreiche Brücken in Petersburg sind nicht nur wegen ihrer Schönheit, sondern auch aufgrund ihrer Namen und Legenden berühmt. Die vier zentralen Brücken wurden wegen ihrer ähnlichen Konstruktion von der Bevölkerung oft verwechselt. Sie erhielten darum unterschiedliche Farben – grün (Newskij Prospekt), blau (Isaaksplatz), gelb (Schlossplatz) und rot (Gorochowaja Ulitza) und wurden nach diesen Farben benannt. Die Blaue Brücke ist mit 97,3 Metern die breiteste Brücke der Stadt, ein organischer Teil des Platzes vor der Isaaks-Kathedrale, der von Fußgängern und Autofahrern als Brücke meist gar nicht wahrgenommen wird. Nur bei einer Rundfahrt auf einem der Touristenboote taucht man sekundenlang in die plätschernde Dunkelheit unter der Brücke. Durch ihre Breite war die Brücke ideal geeignet für den Handel, hier wurde Salz abgeladen, gehandelt und Arbeit gesucht, zum Ende des 18. Jahrhunderts wurden hier auch Arbeitskräfte verkauft. Die Grüne Brücke wurde lange Zeit als „Polizeibrücke“ bezeichnet, da sie direkt neben dem Hauptquartier der örtlichen Polizei lag. 1918 wurde sie umbenannt zur „Volksbrücke“ in proletarischer Abgrenzung zur imperialen Bedeutung der Polizei. Die Gelbe Brücke hat als einzige der „farbigen Brücken“ ihren ursprünglichen Namen nicht zurück bekommen. Sie heißt bis heute in Anlehnung an die nahe gelegene Sänger-Kapelle „Sänger-Brücke“.

Die Theater-Brücke ist ein guter Ort, um russische Hochzeitsbräuche und -garderoben zu studieren. Die drei sternförmig angelegten Brückenarme über Moika und Gribojedow-Kanal (der dritte Arm ist eine Brückenimitation und dient als Damm) sind eingefasst von einem kunstvoll gestalteten gusseisernen Geländer. Unter Petersburger Brautpaaren ist der Brauch entstanden, diese Geländer durch Schlösser zu verzieren, auf denen die Namen der Frischvermählten und das Datum der Hochzeit verewigt sind. Die Schlüssel werden zum Zeichen der Dauerhaftigkeit des gemeinsamen Glücks, begleitet von champagnerseligen Wünschen, in Moika oder Gribojedow-Kanal versenkt. An besonders sonnigen Wochenenden übersteigt die Zahl der zurückgelassenen geleerten Sektflaschen die Zahl der Schlösser, welche – als Tribut an den Schutz der historischen Brücke oder an die hohen Scheidungsraten in der Stadt – regelmäßig weggeräumt werden.

Einen eigenwilligen Blick auf die Brückenstadt vermittelt diese Graphik der russischen Künstlerin Irina Zlobina.2

Ebenfalls über die Moika führt die poetischste Brücke der Stadt - die "Brücke der Küsse". Ursprünglich nur nach dem Inhaber der nahegelegenen Wirtshauses Pozelujew benannt, bot das Wortspiel (pozeluj, russisch: der Kuss [!]) von Anfang an Anlass zu verschiedenen Deutungen. Als die Moika noch Stadtgrenze war, verabschiedeten und begrüßten sich hier Reisende und ihre Familien. Später wurde der Abschiedsschmerz der Garde-Soldaten der Marine aus der naheliegenden Kaserne und ihrer Liebsten zur Illustration des Brückennamens. Auch ein Gefängnis befand sich einige Zeit in unmittelbarer Nähe der Brücke, die Verhafteten konnten sich auf der Brücke von ihren Verwandten verabschieden. Für junge Paare wurde es zum Brauch, sich auf der Brücke oder von einem Ende der Brücke bis zum anderen zu küssen, da so die Liebe niemals aufhören würde. Im Vergleich zu vielen anderen Brücken in der Stadt kann diese für das lange gemeinsame Glück noch mit einer anderen Metapher dienen: Sie ist keine Hebebrücke, die Brückenflügel können nicht getrennt werden. Der Chansonsänger Leonid Utesov widmete diesem Umstand das Lied „Leningrader Brücken“:

Unvermeidbar werden wir älter,
aber Lena und ich
lieben einander bis heute! Was ist das Geheimnis?
Nun, es muss einfach anerkannt werden,
dass alle Brücken getrennt werden,
nur nicht die Pozelujew-Brücke.

„Vorübergehend geteilte Stadt“

Zu Beginn des Brückenbaus in Petersburg wurden fast ausschließlich Zugbrücken aus Holz erbaut, da nur sie den regen Schiffsverkehr in der Flottenstadt ermöglichten. Als die akute Gefahr eines feindlichen Angriffs auf dem Wasser gebannt war und zumindest die innerstädtischen Kanäle und Flüsse keine notwendigen Transportwege mehr darstellten, wurden viele dieser Brücken durch steinerne Brücken ersetzt oder umgebaut und konnten so nicht mehr geöffnet werden. Der Schiffsverkehr auf der Newa zwischen der Ostsee und dem Landesinneren ist jedoch bis heute ein zentraler Wirtschaftsfaktor der Stadt. Acht Brücken über die Newa sowie fünf Brücken über die Kleine Newa und die Große Newka werden von April bis Oktober jede Nacht für mehrere Stunden für den Schiffsverkehr geöffnet und für den Festlandsverkehr geschlossen. Damit prägen die Brücken das Leben der Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt stärker als die in der Nacht geschlossene Metro oder die oft stundenlangen Staus am Tag.

Wer zur fraglichen Zeit nicht auf der richtigen Seite der Stadt ist, muss sich ein alternatives Nachtquartier suchen. Für den Tourismus ist das nächtliche Öffnen der Brücken ein einmaliges Schauspiel. Wie von Zauberhand heben sich die Arme der Brücken als Tore für die Frachtschiffe zwischen Ladoga-See und Ostsee, welche an den hell erleuchteten Prachtbauten am Ufer vorbeiziehen. Die Schlossbrücke öffnet ihre mittleren Brückenflügel in strahlender Beleuchtung durch die Straßenlaternen auf und Neonlampen unter der Brücke. Sie wurde so zum Markenzeichen der Stadt und zum beliebtesten Fotomotiv unter Touristen. Wenige Minuten vor der Schlossbrücke öffnen sich die Brückenflügel der Blagoweschenskij-Brücke und kurze Zeit danach der linke Flügel der Troitzkij-Brücke. Besonders zwischen diesen drei zentralen Brücken tummeln sich unzählige Touristen- und Party-Boote, die einem für ein kleines Vermögen das Gefühl geben, die Brückenarme würden sich nur für einen selbst erheben. Die vor allem im Sommer in mehreren Reihen am Ufer dicht gedrängten Schaulustigen erfreuen sich derweil an dem Blitzlicht-Feuerwerk von den Booten.

Die Petersburger selbst wagen sich selten in diesen Tumult der ausländischen Gäste; für sie veranstaltet die Stadt mehrmals im Jahr zentrale Feste wie den Stadtgeburtstag am 27. Mai oder das Fest der Schulabgänger „Purpurne Segel“, an denen die geöffneten Brücken von halbstündigem Feuerwerk, Laser-Shows und pompöser Musik untermalt werden. Nur die lokalen Autofahrer verfluchen die Lieblingsattraktion der Stadt, wenn sie versuchen, durch die Menschenmengen hindurch möglichst schnell noch zu den flussabwärts gelegenen Brücken und damit zum anderen Ufer zu gelangen. Eine einzige Brücke über die Newa gibt es seit 2004, die so hoch konstruiert ist, dass alle Schiffe problemlos passieren können. Jedoch liegt diese Brücke soweit flussaufwärts vom Stadtzentrum entfernt, dass die meisten Autofahrer es vorziehen, die kurzen Pausen an einigen zentralen Brücken in Kauf zu nehmen. Schließlich ist es für nicht wenige zu einer sehr willkommenen Ausrede in allen möglichen Lebenssituationen geworden: „Es tut mir leid, ich kann nicht kommen, ich war zu spät an der Brücke.“

Der Hebemechanismus der Brücken inspiriert jedoch nicht nur Touristen, Fotografen, untreue Gatten und tanzwütige Jugendliche. Die provokativen Aktionskünstler „Art Grupa Woina“ („Kunst-Gruppe Krieg“) initiierten im Juni 2010 eine äußerst öffentlichkeitswirksame Aktion gegen die Allmacht des Föderalen Sicherheitsdienstes (FSB) an der Litejnij-Brücke. In 23 Sekunden zeichneten neun Aktivisten der Gruppe auf den Asphalt des sich öffnenden Brückenflügels einen 65 x 27 Meter großen Penis. Dieses Kunstwerk erhob sich bei Öffnung der Brücke mehrere Nächte direkt vor der gegenüber liegenden Zentrale des FSB und war durch die zu dieser Jahreszeit faszinierend hellen Nächte gut sichtbar. Trotz Feuerwehreinsatzes ließ sich die Zeichnung nicht gleich entfernen. Die Aktion mit dem Namen „P**** in FSB-Gefangenschaft“ wurde später sogar mit dem föderalen „Innovations-Preis“ im Bereich visueller Gegenwartskunst ausgezeichnet – selten dienst das kunstvolle Erbe der Stadt zu einer solchen Konfrontation mit Fragen der Gegenwart.

Man kann sich mit einem Besuch in Sankt Petersburg dem „eigentlichen“ Russland genauso entziehen wie auf der Schlossbrücke der Hektik der Stadt und der Tristesse der Platten-Vorstädte. Auf der Lomonossow-Brücke wird man eher über die neueste Inszenierung Boris Ejfmans als über den Chodorkowski-Prozess, auf der Löwen-Brücke eher über Dostojewskij als über Wahlbetrug diskutieren. Doch Brücken sind nicht dazu geeignet, sich häuslich auf ihnen einzurichten. Selbst auf der Blauen Brücke, die so breit ist, dass sie als Parkplatz genutzt wird, wurden keine Häuser gebaut. Kann so ein Brücken-Dasein ein Dauerzustand sein? Die geöffneten Brücken der Stadt sind auch in dieser Hinsicht symbolhaft: Spätestens wenn die Brücken geöffnet werden, muss man sich entschieden haben, auf welcher Seite man die Nacht verbringen möchte.


Nach offiziellen Angaben der Stadt Sankt Petersburg befinden sich im Stadtgebiet ca. 580 Brücken. Zählt man die Brücken der Vororte und Parkanlagen hinzu, so erhöht sich die Zahl auf über 800. Die erste Brücke wurde 1705 erwähnt, die jüngste Brücke der Stadt wurde im Januar 2012 eröffnet. Die längste Brücke ist die Große Obuchov-Brücke mit 2.824 Metern, die einzige Newa-Brücke, die als Hängebrücke nicht für den Schiffsverkehr geöffnet werden muss. Die breiteste Brücke ist die die Blaue Brücke, die sich im Stadtzentrum befindet und 97,3 Meter misst; als schmalste Brücke gilt die Bank-Brücke mit 1,8 Metern. Über den Hauptarm der Newa führen 9 Brücken. Die erste dauerhafte Brücke, die Blagoweschenskij-Brücke, wurde 1843 erbaut.


Fußnoten:


  1. Die Aufnahme stellte freundlicherweise Alexei Kouprianov zur Verfügung (Quelle: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Staro Nikolskii_bridge_st_petersburg_downstream.jpg (letzter Zugriff: 18.04.2012; Link mittlerweile inaktiv). ↩︎

  2. Irina Zlobina, die die Graphik freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat, ist Kunstgraphikerin. Viele ihrer Werke finden sich in Museen und privaten Sammlungen, u. a. auch in Deutschland. Weitere Informationen bietet ihre Homepage www.zlobina.carbonmade.com↩︎