Baltikum: Drei Staaten im Schatten des östlichen Nachbarn
Zusammenfassung
Die ökonomische und technische Entwicklung der drei baltischen Staaten Litauen, Estland und Lettland war seit der politischen Wende 1990 enorm. Dennoch bleibt die Angst, militärisch angreifbar zu sein, insbesondere vonseiten des großen Nachbarn Russland. Der Beitrag setzt sich mit den militärischen, aber auch innergesellschaftlichen Risikofaktoren der drei Länder auseinander und nimmt die Hoffnungen, aber auch Ängste der Gesellschaften in den Fokus.
Wer durch die Hauptstädte der baltischen Staaten spaziert, erlebt Leichtigkeit und Agilität. Trendige Kaffees sind gefüllt mit jungen Menschen, die allesamt in Start-Ups oder irgendeinem digitalen Gewerbe tätig zu sein scheinen. In schicken Restaurants trifft sich das wohlgekleidete Business. Und zumindest im Sommer sind die Gassen voll von Touristen – sowohl in den maritimen Hansestädten Tallinn und Riga als auch in Vilnius, dem „Rom des Ostens“ und „Jerusalem des Nordens“. In der Tat, Estland, Lettland und Litauen wollen ihre Chance nutzen. Nach einer prekären Staatlichkeit ab 1918, die mit dem Hitler-Stalin-Pakt 1939 jäh beendet wurde, und nach Jahrzehnten erzwungener Zugehörigkeit zum Sowjetimperium begaben sich die baltischen Republiken endlich auf den Weg von Freiheit und Selbstbestimmung. Als die UdSSR – nicht zuletzt aufgrund des baltischen Freiheitsstrebens – auseinandergebrochen war und die drei Länder ihre Staatlichkeit zurückerlangt hatten, wurde der Übergang zu Demokratie und Marktwirtschaft rasch vollzogen.
Besonders wichtig war die Aufnahme aller drei Länder in die Europäische Union und in die NATO, sodass sie in die wirtschaftlichen und politischen Strukturen des Westens eingebunden wurden. Dieser Schritt stellte nicht nur eine mentale Zäsur im Sinne einer „Rückkehr nach Europa“ dar. Er markierte für viele auch einen Abschied von der Geschichte, also von einer diffizilen strategischen Position, von der Anfälligkeit gegenüber Destabilisierungsversuchen, vom Risiko, das vom großen Nachbarn im Osten ausgeht. Doch die Phase der Entspanntheit hielt nicht lange an. Das Wiedererstarken Russlands, die aggressive Rhetorik aus Moskau oder die Geschehnisse in der Ukraine seit 2014 ließen alte Bedenken zurückkehren und neue Sorgen entstehen.
Nach der Annexion der Krim durch die Russische Föderation und den Auseinandersetzungen in der Ostukraine wurde darüber spekuliert, ob nicht die Regionen im Nordosten Estlands oder im Osten Lettlands mit ihren großen russischen Bevölkerungsgruppen die „nächste Krim“ oder zumindest der „nächste Donbass“ sein würden. Da der Westen von Krisen heimgesucht wurde und Skepsis über den Zusammenhalt sowohl der EU als auch der NATO aufkam, führte dies zu weiteren Zweifeln an der eigenen Sicherheit. Derlei Argwohn kommt nicht von ungefähr, denn jedes der drei Länder ist verwundbar und das Spektrum denkbarer Bedrohungen ist breit. Es umfasst militärische Eventualitäten und Unzulänglichkeiten in der Energiepolitik, Verletzbarkeit in der digitalen Sphäre oder innenpolitische und gesellschaftliche Unwägbarkeiten im Zusammenhang mit den russischen Minderheiten oder intransparente Wirtschafts- und Finanzbeziehungen.
Frieden als eine Frage der Sicherheit
Es verwundert kaum, dass traditionelle Fragen der „harten“, militärischen Sicherheit hoch auf der politischen Agenda der baltischen Staaten liegen. Russland hat in der direkten Nachbarschaft, im so genannten Westlichen Militärbezirk sowie im verbündeten Belarus beachtliche militärische Kapazitäten stationiert, die den Streitkräften der drei kleinen Länder weit überlegen sind. Hinzu kommt, dass Estland, Lettland und Litauen sich in einer exponierten geopolitischen Lage befinden. So gibt es nur eine etwa hundert Kilometer lange Landverbindung zur NATO, den „Suwałki-Korridor“ zwischen Litauen mit Polen. Diese Verbindung könnte von Belarus und Kaliningrad im Ernstfall relativ leicht abgeriegelt werden.
Überdies hat Russland in der Enklave Kaliningrad beachtliche Abstandsfähigkeiten, also Waffensysteme wie Luftabwehrraketen und Marschflugkörper, die möglicherweise Luft- und Seewege für NATO-Partner versperren könnten. Die baltischen Staaten haben daher stets darauf gedrängt, die Bündnisverteidigung der Allianz effektiver zu gestalten. Doch letztlich brachte erst der Russland-Ukraine-Konflikt einen Sinneswandel. Angesichts des russischen Verhaltens verstärkte die NATO ihre Maßnahmen zur Absicherung der „Ostflanke“ und damit auch der baltischen Staaten. Im Rahmen der „Verstärkten Vornepräsenz“ sind seit 2017 multinationale Kampfverbände in Bataillonsstärke in jedem der drei Länder (und in Polen) präsent. Die Bundeswehr fungiert als tonangebende Rahmennation in der in Litauen stationierten Battle Group. Diese Einheiten wären den in der Region befindlichen russischen Verbänden militärisch nicht gewachsen, doch sollen sie als Stolperdraht das Risiko einer Aggression reduzieren, da diese bedeuten würde, dass auch NATO-Verbündete direkt angegriffen würden. Verbessert wurden auch die Krisenreaktionsfähigkeiten der Allianz, sodass nennenswerte Verstärkungen rasch in die Region verbracht werden könnten. Auch die Überwachung des Luftraums durch das so genannte „Air Policing“ der NATO (die baltischen Staaten selbst besitzen kein einziges Kampfflugzeug) oder die Durchführung von Manövern vor Ort sind Zeichen der Entschlossenheit, die das Bündnis nun aussendet.
Jenseits dieser militärischen Maßnahmen bleibt für die baltischen Staaten die Zuverlässigkeit der NATO-Partner eine entscheidende Variable ihrer Sicherheit. Zwar wird im politischen Diskurs betont, dass die Allianz im Falle eines Falles jedem der drei Länder beistehen würde, doch macht man sich Gedanken, ob insbesondere die westeuropäischen Partner wegen eines lokalen Konflikts eine unberechenbare Eskalation mit Russland riskieren würden, insbesondere dann, wenn Russland mit einer Ausweitung und Intensivierung einer solchen Auseinandersetzung drohen würde.
Auch auf einem anderen Feld ist Fortschritt zu verbuchen – dem der Cyber-Sicherheit. In den baltischen Staaten setzt man konsequent auf Digitalisierung und die Anwendung digitaler Lösungen in Wirtschaft und Verwaltung sowie im privaten Leben. Estland hat sich – auch dank eines guten Marketings – den Ruf eines Vorreiters in der virtuellen Sphäre erworben. Das Land rühmt sich, mit dem von der einflussreichen Fachzeitschrift „Wired“ verliehenen Etikett der „am meisten vorangeschrittenen digitalen Gesellschaft“. Ob vernetzte Verwaltung, elektronische Arztrezepte oder Wahlen im Internet, überall kommen Informations- und Kommunikationstechnologien zum Einsatz. Dass hierdurch auch Einfallstore für Hackerangriffe und andere Formen virtueller Intervention geschaffen werden, war nie ein Argument gegen einen extensiven Online-Lebensstil. Denn parallel zur wachsenden Vernetzung wurden Maßnahmen zur Verbesserung der Cyber-Sicherheit getroffen. Für Estland gab es hierfür bereits 2007 eine Erfahrung, die allgemein als Weckruf eingeschätzt wird. Nachdem das Denkmal eines Rotarmisten aus der Innenstadt Tallinns entfernt worden war, kam es nicht nur zu Protesten und Straßenschlachten, sondern auch zu Hackerattacken auf öffentliche estnische Institutionen. Man ging davon aus, dass die Angriffswellen ihren Ursprung in Russland hatten. Seither tat sich einiges. Im Jahr 2008 wurde im Rahmen der estnischen Kaitseliitt, der vornehmlich aus Freiwilligen bestehenden Territorialverteidigung des Landes, eine Einheit für Cyber-Verteidigung geschaffen. Hierbei handelt es sich weniger um „Freizeit-Soldaten“ als um eine Gruppe von IT-Spezialisten, die z. B. Übungen mit Angehörigen aus Militär und Zivilverwaltung abhalten oder das Bewusstsein für Cyber-Sicherheit in Schulen schärfen. Während anderswo lange über Sinn und Zweck von einschlägigen Grundsatzdokumenten diskutiert wurde, hat Estland bereits seine dritte Cyber-Security-Strategie.
Es ist kein Zufall, dass gerade dieses Land Sitz des Exzellenzzentrums für Cyber-Verteidigung der NATO und der EU-IT-Agentur wurde. Dies heißt nicht, dass die drei Länder auf der sicheren Seite wären. Zumal auch erhebliche Unterschiede zwischen Estland und Litauen einerseits und dem bei Cyber-Sicherheit hinterherhinkenden Lettland andererseits bestehen. Dennoch kann konstatiert werden, dass die Sensibilisierung allerorten hoch ist und gerade die so wichtige Zusammenarbeit militärischer und ziviler sowie öffentlicher und privater Akteure auf einem hohen Niveau verläuft.
Wie Anfälligkeit überwunden werden kann, verdeutlicht aber wohl am besten der Energiesektor. Die drei baltischen Staaten befanden sich bis vor einigen Jahren in einer starken energiewirtschaftlichen Abhängigkeit von Russland. Dies zeigte sich vor allem bei der sensitiven Gasversorgung. Der gesamte Gasimport in jedes der drei Länder stammte von der russischen Gazprom, es gab keine Lieferinfrastruktur, die Zugang zu alternativen Quellen ermöglichte, und die großen Versorgungsunternehmen wurden (gemeinsam mit deutschen Partnern) von Gazprom kontrolliert. Diese Situation hat sich grundlegend geändert. Im litauischen Klaipeda (dem früheren Memel) wurde eine schwimmende Anlandevorrichtung für die Einfuhr von Flüssiggas eingerichtet, sodass das Monopol von Gazprom gebrochen wurde. Bis Ende 2021 soll eine Gaspipeline fertiggestellt sein, die Litauen mit Polen verbindet. Durch die Veränderung der Eigentumsverhältnisse in wichtigen Energiekonzernen sowie durch die so genannte Entflechtung von Firmen wurde für mehr Konkurrenz auf dem Gasmarkt gesorgt.
Auch im Stromsektor tat sich vieles. Zwischen Estland und Finnland sowie Litauen und Schweden wurden unterseeische Kabel verlegt, Litauen und Polen sind direkt durch neue Hochspannungsleitungen verbunden. Damit konnten die isolierten Elektrizitätssysteme der drei Länder an die Märkte in Nord- und Mitteleuropa angebunden werden. Ein wichtiges Unterfangen stellt auch die so genannte Desynchronisierung der Elektrizitätssysteme der drei Länder dar. Diese sind bisher noch mit Russland und Belarus in einem Verbund und wollen nun ihre Standards bis 2025 auf das mitteleuropäische System umstellen, damit auch hier technische und im Extremfall politisch motivierte Störungen der eigenen Kreisläufe ausgeschaltet werden können.
Bei vielen dieser Maßnahmen stand und steht den baltischen Staaten die Europäische Union beiseite. So gab es für wichtige Energieinfrastrukturprojekte Gelder aus europäischen Fördertöpfen; europarechtliche Vorgaben zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit haben dabei geholfen, die Energiemärkte zu flexibilisieren, und in Auseinandersetzungen mit Gazprom war die Europäische Kommission ein wichtiger Verbündeter. Waren die drei Länder noch vor einigen Jahren als isolierte „Energieinseln“ in der EU beschrieben worden, haben sie durch eigene Diversifizierungsmaßnahmen und europäische Unterstützung ihre Energie- und Versorgungssicherheit deutlich verbessert.
Die gesellschaftliche Situation als Bedrohungsfaktor
Während es bei militärischen oder energiewirtschaftlichen Fragen und auch bei vielen Aspekten der Cyber-Sicherheit um mögliche Bedrohungen von außen geht, hat die Bedrohungswahrnehmung in den baltischen Staaten aber auch viel mit realen oder möglichen Verunsicherungen von innen zu tun. Eine wichtige Rolle spielt hierbei das Verhältnis der Titularnationen zu den russischen bzw. russischsprachigen Minderheiten. In Estland und Lettland machen diese Bevölkerungsgruppen ein Viertel (russische Minderheit) bzw. grob ein Drittel (Russophone) der Einwohnerschaft aus. Insbesondere in den Hauptstädten sowie in einigen östlichen Landesteilen, also in der Narwa-Region in Estland und im lettischen Lettgallen, ist der Anteil der Russischsprachigen hoch. Nicht alle dieser Menschen haben einen russischen Hintergrund, da ihre Eltern oder Großeltern aus unterschiedlichen Teilen der Sowjetunion kamen, aber bei der großen Mehrheit handelt es sich um Menschen mit russischem Selbstverständnis. Die Beziehungen zwischen den russischen Gemeinschaften und der estnischen bzw. lettischen Mehrheit sind kompliziert, immer wieder brechen Konflikte aus.
Ein Streitthema sind historische Fragen, insbesondere die Einschätzung der Sowjetzeit. Aus Sicht der Esten und Letten (und Litauer) wurden ihre Nationen erst Opfer des Hitler-Stalin-Pakts und mit Ende des Zweiten Weltkriegs mit Gewalt in die UdSSR inkorporiert. Für viele Menschen mit russischem Hintergrund waren die Ankunft der Roten Armee eine Befreiung vom Faschismus und die darauffolgenden Jahrzehnte eine Periode der wirtschaftlichen Entwicklung und Industrialisierung der baltischen Staaten. Überdies wird der estnischen und lettischen Politik vorgeworfen, sie hätten sich nicht konsequent von den Angehörigen ehemaliger heimischer Waffen-SS-Verbände distanziert. Da derlei Narrative oft von Moskau unterstützt werden, werden Differenzen um historische Fragen mit den russischen Minderheiten in Estland und Lettland durchaus als Element der memorialpolitischen Sicherheit aufgenommen. Mehr noch: Teile der Mehrheitsbevölkerung halten die russischen Gemeinschaften schlicht für eine Fünfte Kolonne Russlands, die mit der Moskauer Politik sympathisiert und im Krisenfall leicht zu mobilisieren wäre. Andererseits herrscht in Kreisen der russischen Minderheiten das Gefühl, man werde unter Generalverdacht gestellt und nicht vollends integriert. Kritisiert wird u. a. das Staatsbürgerschaftsrecht: Anders als in Litauen (wo der Anteil der russischen Minderheit sich auf nur knapp 6 Prozent beläuft) wurde Menschen, die in der Sowjetzeit einwanderten, und deren Nachkommen die Staatsbürgerschaft nicht verliehen, sondern diese musste bzw. muss erst beantragt werden. Dadurch gab es relevante Gruppen von „Nichtstaatsbürgern“, die ohne estnischen oder lettischen Pass sind und deswegen auch nicht wählen dürfen. Auch die strittige Bildungsreform in Lettland, die den Lettischunterricht in Minderheitenschulen ausdehnt und damit z. B. die russische Unterrichtssprache reduziert, zeigt, wie unterschiedlich die Perspektiven sind. Von lettischer Seite wird die Verbesserung der Kenntnisse der Landessprache als Voraussetzung für bessere Integration betont. Von russischer Seite wird der Vorwurf erhoben, Minderheitenrechte würden eingeschränkt.
In der Tat kann so ein auf Gegenseitigkeit beruhendes, fast schon chronisches Misstrauen zwischen Mehrheiten und russischen Minoritäten beobachtet werden. Dennoch ist dies ein pauschales Urteil, denn es gilt, auf die Realia zu schauen. Ungeachtet des Staatsbürgerschaftsrechts nahm die Anzahl der Menschen ohne Pass deutlich ab. In Estland etwa bekommen die Kinder von Eltern ohne estnische Staatsangehörigkeit diese automatisch bei der Geburt. Im Land gibt es auch, anders als in Lettland, keine politische Partei, die faktisch dominant russisch geprägt ist. Die estnische Zentrumspartei, die gegenwärtig den Ministerpräsidenten stellt, absorbiert die Mehrheit der aktiven russischen Stimmbürger, wird aber genauso von „ethnischen Esten“ gewählt. In Estland und Lettland haben sich die russischen Gemeinschaften überdies ausdifferenziert. So wurden in estnischen soziologischen Untersuchungen schon vor Jahren gleich fünf unterschiedliche Teilgruppen innerhalb der russischen Minderheit unterschieden, u. a. voll Integrierte, „russischsprachige estnische Patrioten“, aber auch solche, die auf Distanz zum estnischen Gemeinwesen gehen. Angesichts dessen dürfte man in jedem der baltischen Länder eher von der Existenz russischer Minderheiten als von einer kohärenten russischen Minderheit sprechen. Auch wenn sich in den russischen Minderheiten viele Menschen der Russkij Mir, der Welt der russischen Sprache, Literatur und Kultur, zugehörig fühlen, auch wenn viele Russen in Lettland und Estland noch nicht ausreichend von den Erfolgen der Marktwirtschaft profitieren, so sind sich die meisten Angehörigen dieser Gemeinschaften doch darüber im Klaren, dass sie in der Europäischen Union deutlich bessere Lebens- und Entwicklungsmöglichkeiten haben. Während die Sezession von Territorien mit mehrheitlich russischer oder russischsprachiger Bevölkerung daher eher „political fiction“ ist, kann das Szenario einer auf Unzufriedenheit und Entfremdung basierenden Destabilisierung etwa eines strukturschwachen Gebiets wie Lettgallen nicht völlig ausgeschlossen werden.
Doch die inneren Unwägbarkeiten beschränken sich nicht auf das schwierige Zusammenleben mit den russischen Minderheiten. So sind die Medienlandschaften nicht nur in eine estnische oder lettische einerseits und eine russische „Infosphäre“ andererseits (in der z. B. russisch-baltische Fernsehsender, aber auch TV-Stationen aus der Russischen Föderation dominieren) gespalten, auch krankt die Berichterstattung in den kleinen und hart umkämpften Medienmärkten an Ressourcenknappheit und dem Fehlen von Qualitätsjournalismus. Dies öffnet Tür und Tor für Desinformation und Fake News. Die Regierungen versuchen daher gegenzusteuern. In Estland wurde vom öffentlichen Fernsehen ein neuer russischsprachiger Kanal, ETV+, etabliert. In Litauen wurden wiederum einige russische Sender mit schwerer Propaganda aufgrund von Hate-Speech-Regelungen aus dem Kabelnetz genommen. Ob die Bevölkerung sich von Falschinformationen in sozialen und sonstigen Medien verunsichern lässt, wird aber letztlich davon abhängen, ob die Menschen den „Mainstream-Medien“ und der politischen Führung ihres Landes vertrauen.
Überdies gibt es Grauzonen zwischen Politik, Staat und Wirtschaft, in denen sich nicht nur Korruption eingenistet hat, sondern wo auch undurchsichtige Geschäftspraktiken mit russischen Partnern stattfinden. Große Finanzskandale durch Banken mit hohen Anteilen gebietsfremder Einlagen führten nicht nur zu Bankenpleiten, sondern auch zum Vorwurf der Geldwäsche durch in den baltischen Staaten ansässige Geldinstitute. Wie bei allen anderen Fragen ist auch hier auf die Besonderheiten und die Unterschiede zwischen den drei Ländern hinzuweisen. Während Estland viel für Transparenz in Staat und Wirtschaft getan hat, kommen in Lettland einige ungünstige Faktoren zusammen: Oligarchen wie Ainārs Šlesers, der mächtige Bürgermeister der Hafenstadt Ventspils, haben nicht nur kleine Geschäftsimperien aufgebaut, sondern können auch politischen Einfluss ausüben. Russisches Kapital ist hier nicht nur in Banken und der Finanzwelt, sondern offenkundig auch im Immobiliensektor, vornehmlich in der Hauptstadt Riga und im Ostseebadeort Jurmala angelegt.
Trotz aller Risiken und Bedrohungslagen hat sich in den baltischen Staaten weder Beklommenheit noch eine um sich greifende Furcht vor einer unmittelbar bevorstehenden Aggression eingestellt. Zu beobachten ist eher ein zunehmendes Unbehagen angesichts der Entwicklungen in der internationalen Politik und ein neues Bewusstsein über die mannigfachen Verwundbarkeiten, die nach wie vor bestehen. Die Konsequenzen, die die baltischen Staaten daraus ziehen, sind eindeutig. In der Außen- und Sicherheitspolitik möchten sie eine effektive NATO, die durch militärische Vorbereitung und politische Glaubwürdigkeit Abschreckung und im Konfliktfall Verteidigung bietet. Auch wenn die drei Länder die Bedeutung der europäischen Verbündeten betonen, ist das Vertrauen in die USA ungleich größer: Die Vereinigten Staaten werden als eigentlicher Sicherheitsanker wahrgenommen.
Innerhalb der EU sind die drei Länder zumeist integrationsfreundlich. Eine eng verzahnte EU mit starken Gemeinschaftsorganen stellt die Voraussetzung dafür dar, dass europäische Solidarität funktioniert, die Interessen kleinerer Mitglieder gewahrt bleiben und die Fragmentierung der Union nicht zunimmt. Deutschland kommt aus Sicht der drei Länder hierbei eine besondere Bedeutung zu. Denn einerseits werden die deutsche Empathie in der NATO, das Engagement der Bundeswehr in den drei Ländern oder die konsequente Sanktionspolitik gegenüber Russland goutiert, andererseits befürchtet man die Rückkehr eines deutsch-russischen Sonderverhältnisses – nicht zuletzt das Nord-Stream-2-Pipelineprojekt hat derartigen Einschätzungen Auftrieb verliehen.
Ungeachtet aller außen- und innenpolitischen Entwicklungen steht eines fest: Politik und Gesellschaft in den baltischen Staaten werden auch künftig „versicherheitlicht“ bleiben. Der kollektive Erfahrungsschatz, die innergesellschaftliche Situation, die geopolitische Verortung und die zunehmende Großmachtkonkurrenz bringen es mit sich, dass für Estland, Lettland und Litauen neben dem Streben nach Wohlstand militärischer Schutz und gestärkte gesellschaftliche Widerstandsfähigkeit Prioritäten bleiben werden.