Bosnien und Herzegowina

Schwere Lage und ungewisse Zukunft
aus OWEP 2/2020  •  von Pero Sudar

Weihbischof em. Dr. Pero Sudar (geb. 1951), 1993-2019 Weihbischof im Erzbistum Vrhbosna (Sarajevo), hat sich bereits während des Bürgerkriegs in Bosnien und Herzegowina für die Verständigung zwischen den Ethnien eingesetzt. Diesem Ziel dienen auch die von ihm iniitiierten „Schulen für Europa“, in die Kinder ohne Unterschied der Herkunft, Nationalität und Religion aufgenommen werden.

Zusammenfassung

Bosnien und Herzegowina leidet bis heute unter den Folgen des verheerenden Bürgerkriegs, denn der Friedensvertrag von Dayton hat nach Ansicht von Weihbischof Pero Sudar den Keim für eine Dauerkrise gelegt. Insofern fallen seine Bilanz und Prognose ernüchternd aus.

Fehlende Perspektive

Es fällt mir schwer, rational zu begründen und zu verstehen, wieso sich unser Land in einer so hoffnungslosen Lage befindet. Die interethnischen Spannungen und die Intoleranz, nicht nur zwischen den Politikern, sondern auch innerhalb der Bevölkerung scheinen heute viel tiefer zu sein als unmittelbar nach dem Bosnienkrieg von 1992-1995. Wie schwer sich die Politiker damit tun, zusammenzuarbeiten und sich zu verständigen, zeigt sich auch darin, dass die Regierung auf Staatsebene erst vierzehn Monate nach den Wahlen unter vielen Mühen gebildet werden konnte. Eine Regierung in der Föderation ist noch nicht in Sicht.1

Worin liegen die Gründe für diesen Zustand unserer Gesellschaft ein Vierteljahrhundert nach dem Krieg? Geht es nur um die extremen und unbeugsamen Positionen der Vertreter der nationalen Parteien? Soll und muss es für immer so bleiben, oder gibt es doch einen Ausweg aus diesem unhaltbaren Zustand?

Das schwere Schicksal von Bosnien und Herzegowina

Der Zerfall Jugoslawiens hat gerade in Bosnien und Herzegowina seine schwierigsten und traurigsten Folgen gezeigt. Als sich die kommunistischen Behörden Anfang 1990 nicht einigen konnten, wie man Jugoslawien nach den demokratischen Wahlen neu organisieren sollte, zerfiel in einer einzigen Nacht zunächst die kommunistische Einheit und dann die kommunistische Partei.

Anlass dafür war die Abschaffung der Staatsverfassung von 1974, die den einzelnen Republiken mehr Freiheiten garantiert, aber auch das Kosovo und die Wojwodina als autonome Regionen innerhalb Serbiens anerkannt hatte und nun 1990 per Dekret zum integralen Bestandteil Serbiens machte. Gleichzeitig erklärten Slowenien und Kroatien, später auch Makedonien ihre Selbstständigkeit, was Serbien und die jugoslawische Armee mit Gewalt zu verhindern versuchten.

Der Krieg war gerade in Bosnien und Herzegowina besonders grausam, weil es sich um einen Vielvölkerstaat handelte. Die bosnischen Serben, ermutigt und unterstützt durch die Regierung in Belgrad, wandten sich dagegen, dass unsere Republik dem Beispiel der anderen folgte, was eine Abtrennung vom Gesamtstaat zur Folge gehabt hätte. Als sich die bosnischen Muslime und Kroaten Anfang 1992 durch ein Referendum für unabhängig erklärten, antworteten die bosnischen Serben darauf mit der Gründung der „Serbischen Republik“ (Republika Srpska). In den folgenden Jahren vertrieben sie mit Terror und Gewalt die nichtserbische Bevölkerung aus den von ihnen eroberten Gebieten. Während des Bosnienkrieges haben alle drei Völker – bosnische Muslime, die sich ab 1993 Bosniaken nannten, Kroaten und Serben – gegeneinander um das Territorium gekämpft und sich gegenseitig vertrieben. Als sich dann 1995 Bosniaken und Kroaten gegen die Serben zusammentaten und begannen, die eroberten Gebiete zu befreien, griff die US-Regierung in die Kämpfe ein und bereitete den Weg zum Dayton-Vertrag (21. November 1995), der den Krieg beendete.

Im Abkommen wurde leider eine ungerechte Aufteilung des Landes festgeschrieben. Die bosnischen Serben, die vor dem Krieg rund ein Drittel der Bevölkerung ausmachten, bekamen 49 Prozent des Territoriums zugeteilt. Ihr Teilstaat, die Republika Srpska, ist stark zentralistisch organisiert. Hingegen wurden die Bosniaken und die Kroaten gezwungen, in den verbliebenen Landesteilen eine Föderation zu bilden und zusammenzubleiben. Seither besteht unser Staat praktisch aus zwei Einheiten, die beide über eine eigene staatliche Administration verfügen. Die Föderation ist sehr dezentral organisiert und hat zehn Kantone, die wie kleine Staaten organisiert sind. Dazu kommt noch das Sonderverwaltungsgebiet des Distrikts Brčko. Unser Staat hat auf diese Weise nicht nur eine große und kostspielige Verwaltung, sondern auch ethnisch und politisch einander widersprechende Ziele. Aus diesem Grund ist es bei unseren Politikern und Parteien normal, dass die Bosniaken Vorschläge der Serben ablehnen, nicht etwa weil sie an sich schlecht wären, sondern weil sie von der serbischen Seite kommen. Das gilt genauso umgekehrt auch für serbische und kroatische Politiker. In diesem Dreiecksspiel sorgt die ständige Drohung, die Republika Srpska könne sich abspalten und sich Serbien anschließen, für zusätzliche Spannungen. Aber auch zwischen Kroaten und Bosniaken ist das Verhältnis schlecht: Die Kroaten fühlen sich oft von den Bosniaken bevormundet, die unter dem besonderen Schutz der Hohen Repräsentanten der UNO und der Europäischen Union stehen. Sie verlangen die Achtung ihrer konstitutiven Rechte und meinen, ebenfalls ein Recht auf eine eigene territoriale Einheit zu haben.

Noch umstrittener ist das Wesen unseres Staates. Schon während des Zweiten Weltkrieges hatte die kommunistische Partei Bosnien und Herzegowina als „Staat der Muslime, Kroaten und Serben“ definiert. Aus diesem Grund wurde in den Friedensvertrag von Dayton 1995 eingefügt, dass unser Staatsgefüge von drei konstitutiven Völkern gebildet wird.

Die Last der Geschichte

Wie ist Bosnien und Herzegowina in diese komplexe politische Lage geraten? Wenn man sich das Verhalten vieler Politiker in allen ehemaligen jugoslawischen Republiken während der Nachkriegszeit ansieht, scheint es ihnen weniger um Freiheit und Demokratie gegangen zu sein, sondern vor allem um politische Macht und materielle Interessen. Das kommunistische System ist schon lange untergegangen, aber die Mentalität der Führungskräfte ist die gleiche geblieben. Für sie waren die Kriege und deren Opfer kein zu hoher „Preis“, um eine Art „Tito“ in den eigenen Republiken zu werden. Dass sie sich nicht unterordnen wollten, ist auch in der Struktur der von ihnen neu gegründeten „demokratischen“ Parteien erkennbar. Dort wird alles der absoluten Macht der Führer und dem Überleben der Partei untergeordnet.

Nur so kann man verstehen, dass der serbische Staatschef Slobodan Milošević sich lieber für den Krieg entschied als dafür, eine regionale Autonomie für das Kosovo und die Wojwodina sowie eine Demokratisierung Jugoslawiens zu akzeptieren. Das gleiche gilt leider mehr oder weniger auch für die anderen Schüler Titos. Der slowenische KP-Chef Milan Kučan riskierte einen Krieg gegen die mächtige jugoslawische Armee und hat Tausende slowenischer Bürger geopfert, weil sie keine ethnischen Slowenen waren. Der kroatische Präsident Franjo Tuđman hat auch lieber den Krieg gewählt, als den Serben eine Autonomie zuzugestehen. Der bosnische Politiker Alija Izetbegović hat während des Bosnienkrieges alle Friedensvorschläge der Europäischen Union abgelehnt. Um an der Macht zu bleiben, spielen sie alle mit der gefährlichen Last der Geschichte. Dazu beigetragen hat auch der Friedensvertrag von Dayton, der viele ungerechte und unlogische Bestimmungen enthält. Der Friedensvertrag fiel so aus, dass Hunderttausende von Vertriebenen nicht nach Hause zurückkehren durften.

Die Menschen sind zum Spielball der Politik geworden. Die Aufteilung des Landes wird von vielen Menschen als Diktat des Westens verstanden. Statt einen wirklichen Frieden in einem normalen Land zu schaffen, wurde dem Staat ein „kalter Frieden“ in Form von „Entitäten“ (Einheiten) aufgezwungen. Unsere Gesellschaft ist de facto durch das Bestehen dieser „Entitäten“ gelähmt, die das normale Leben der Menschen behindern, anstatt es zu erleichtern.

Warum haben die USA und die Europäische Union Bosnien und Herzegowina eine derart schlechte politische Lösung auferlegt? Konnten sie wirklich nicht wissen, dass so etwas nicht funktionieren kann? Ich glaube es nicht! Jeder Mensch muss wissen, dass ein Staat, in dem drei Völker leben, nicht in zwei Einheiten aufgeteilt werden sollte. Es handelt sich nicht um ein föderales Gebilde, sondern um zwei Staaten in einem schlecht funktionierenden Gesamtstaat.

Als der Friedensvertrag von Dayton unterschrieben und veröffentlicht wurde, hat die Bischofskonferenz von Bosnien und Herzegowina in einem offenen Brief von 8. Dezember 1995 geschrieben: „Wir begrüßen diesen Friedensvertrag. Wir bitten Gott darum, dass er diesen Krieg wirklich enden lässt. Wir haben jedoch ernste Zweifel, dass auf der Basis eines so zustande gekommenen Friedensvertrags der innig ersehnte gerechte Frieden tatsächlich triumphiert und von Dauer ist. Dieser Friedensvertrag enthält, soweit er uns bekannt ist, etliche sehr seltsame Wiedersprüche und gefährliche Unsicherheiten:
1. Das proklamierte vollständige Bosnien und Herzegowina wird durch diesen Vertrag in zwei Teile geteilt.
2. Wie kann es sein, dass ein Staat drei Armeen hat?
3. Was für eine Art Gerechtigkeit ist es, wenn die Hälfte eines Landes einem Volk gegeben wird, das ein Drittel ausmacht?
4. Wer kann befugt sein, einen Vertrag zu unterschreiben, gemäß dem das Gebiet der mehrheitlichen Bevölkerung der bosnischen Posavina der Herrschaft einer minderheitlichen Bevölkerung überlassen wird?2
5. Durch diesen Vertrag werden die ethnische Säuberung und das Recht der Stärkeren offiziell bestätigt und sanktioniert und das Opfer und der Aggressor auf die gleiche Ebene gestellt.
6. Wer in aller Welt soll die in diesem Friedensvertrag vorgesehene Rückkehr von Hunderttausenden von Vertriebenen und Flüchtlingen in ihr Zuhause und ihre Heimatorte ins Werk setzen und diesen dort den Genuss aller Menschen- und Bürgerrechte und bürgerlichen Freiheiten gewährleisten?

Heute zeigt sich, wie klar die Bischöfe schon damals die Mängel dieses Vertrages erkannt haben. Wenn sie schon den politisch unerfahrenen Bischöfen auffielen, hätten es auch die an diesem Friedensvertrag mitwirkenden Experten und Unterzeichner besser wissen können. Aber offenbar verfolgten auch sie eigene Interessen. Da man Kosovo von Serbien wegnehmen und damit auch dem russischen Einfluss entreißen wollte, hat man in Bosnien und Herzegowina ein neues „Kosovo“ geschaffen, die Republika Srpska, und damit den Serben einen Ersatz angeboten. Um die Serben zu beruhigen, hat man die politische Lage und das menschliche Leben in der ganzen Region dauerhaft gefährlich vergiftet.

Der Verlust von Menschen

Das Verhalten der hiesigen Eliten und das Eingreifen der westlichen Friedensvermittler haben katastrophale und andauernde Folgen hinterlassen. Während des Krieges wurden in Bosnien und Herzegowina mehr als 100.000 Menschen getötet und etwa 235.000 verletzt. Über 650 Massengräber wurden dokumentiert. Rund eine halbe Million Menschen wurden in Konzentrationslagern gefoltert. Schätzungsweise 1.250.000 Menschen wurden auf Dauer vertrieben und fast 1,4 Millionen im Land zwangsumgesiedelt. Nur wenige bosnische Flüchtlinge sind in ihre angestammte Heimat zurückgekehrt. Statt einer Rückwanderung, die das Land eigentlich braucht, verzeichnet die Statistik, dass immer mehr Menschen unser Land verlassen. Im Vergleich zum Jahr 1991 ist die Zahl der Einwohner von Bosnien und Herzegowina nach der Volkszählung 2013 um 845.000 gesunken. In den vergangenen zehn Jahren sind rund 230.000 Bewohner weggegangen. Unabhängige Quellen berichten von 183.000 Ausgewanderten allein im Jahr 2019. Diesen Angaben zufolge sind nur noch 2.700.000 Einwohner im Land geblieben.

Warum verlassen so viele Menschen unser Land? Die beschriebene politische Lage ist mit Sicherheit der Hauptgrund, der viele Menschen dazu bringt, ihrer Heimat den Rücken zu kehren. In vielen Analysen werden immer wieder die schlechte wirtschaftliche Lage und die Arbeitslosigkeit als weitere Gründe genannt. Viele werden auch durch Unsicherheit aus dem Land getrieben, obwohl sie in der Heimat einen guten Arbeitsplatz und alles weitere, was ein normales Leben ausmacht, haben.

Außerdem muss man die tiefverwurzelte Korruption bedenken, die seit Jahrhunderten von den staatlichen Einrichtungen befördert und geschützt wird. Ein bekannter Rechtsanwalt hat neulich behauptet, die Korruption sei zum Lebensstil unserer Gesellschaft geworden. Den jeweiligen Minderheiten wird mit interethnischer Intoleranz begegnet, was sich auf dem Arbeitsmarkt bemerkbar macht. Die wenigen Arbeitsplätze, die überwiegend im öffentlichen Dienst angeboten werden, werden nach den Direktiven der Parteien und ethnischer Zugehörigkeit verteilt. In der Regel wird dafür sogar ein Schmiergeld bezahlt. So läuft das in allen Bereichen des Lebens, auch in Schulen, Universitäten oder Krankenhäusern. Eine Umfrage zeigt, dass nur 44 Prozent der Jugendlichen den so organisierten Staat als ihre Heimat ansehen und 70 Prozent lieber ins Ausland gehen wollen.

Die wirtschaftliche Lage mit etwa 45 Prozent Arbeitslosigkeit und die interethnischen Spannungen sind vor allem der politischen Organisation des Staates und dem Verhalten der Politiker anzulasten. Da sie sich über nichts einigen wollen, stagniert unsere Wirtschaft. Niemand wagt es, in unserm Land zu investieren.

Eine menschenwürdige Zukunft wird behindert

Gibt es einen Ausweg aus dieser scheinbar hoffnungslosen Lage? Viele meinen, unsere Lage könnte besser werden, wenn unser Staat der Europäischen Union beiträte. Fast alle unsere Politiker sprechen sich dafür aus, was aber unglaubwürdig erscheint. Andererseits verlangen die EU-Vertreter von den bosnischen Parteien und Politikern, dass sie zusammenarbeiten. Sie erwarten, dass Bosnien und Herzegowina mit einer Stimme spricht. Dies ist aber völlig unrealistisch, solange die oben beschriebene Struktur des Staates das unmöglich macht – und dabei sollte Bosnien und Herzegowina gerade wegen des multiethnischen, multireligiösen und multikulturellen Charakters als Beispiel für das Zusammenleben besonders bewahrt und geschützt werden. Das halte ich gerade in unserer heutigen Welt für besonders wichtig.

Unsere Gesellschaft braucht eine tiefe Erneuerung

Auch wenn es utopisch erscheint: Es bleibt die Hoffnung, dass die Mächtigen der Welt irgendwann einsehen werden, wie verkehrt es ist, in fremden Ländern Ungerechtigkeit und Unfrieden zu stiften. Gleichzeitig muss alles Nötige getan werden, um Politiker und Bevölkerung davon zu überzeugen, dass Verschiedenheit nicht etwa eine Gefahr, sondern eine Chance ist. Man sollte die eigenen Nachbarn als Freunde betrachten. Dafür sollte die Europäische Union viel mehr tun, weil es dabei auch um ihre vitalen Interessen geht.

Die schwierige politische und wirtschaftliche Lage unseres Landes dauert nun schon viel zu lange an. Vor allem die Jugendlichen verlieren jede Hoffnung, dass es irgendwann einmal besser werden könnte. Was ist trauriger als die Tatsache, dass Menschen, die ein ganzes Leben schwer gearbeitet haben, keine Rente erhalten? Was kann man solchen Menschen noch sagen?

Unsere Gesellschaft braucht eine tiefe Erneuerung in allen Bereichen des Lebens. Der Wille zur Macht und der extreme Nationalismus haben uns nichts Gutes gebracht und werden uns auch in Zukunft nicht weiterbringen. Dabei lohnt es sich, Bosnien und Herzegowina zu unterstützen und neue Perspektiven aufzubauen. Hier wird die Menschlichkeit auf die Probe gestellt.


Fußnoten:


  1. Ausführliche Informationen über den Status von Bosnien und Herzegowina und die politischen und gesellschaftlichen Probleme vermitteln die immer noch aktuellen Beiträge im Länderheft „Bosnien und Herzegowina“ der Zeitschrift OST-WEST. Europäische Perspektiven (12 [2011], H. 4)](. ↩︎

  2. Gemeint ist der Kanton Posavina, der zur Bosnisch-kroatischen Föderation gehört, aber durch die Republika Srpska von dieser getrennt ist. ↩︎