„Der Touristenboom ist wegen Corona zunächst vorbei.“ Ein Gespräch mit der Reiseleiterin Dagmar Schreiber

aus OWEP 4/2020  •  von Gemma Pörzgen

Gemma Pörzgen ist freie Journalistin mit Osteuropa-Schwerpunkt in Berlin. Sie arbeitet als Autorin und Veranstaltungsmoderatorin sowie in der Redaktion von Deutschlandfunk Kultur. Seit April 2020 ist sie Chefredakteurin von OST-WEST. Europäische Perspektiven.

Zusammenfassung

Seit der Corona-Pandemie ist der Auslandstourismus in Zentralasien zusammengebrochen. Dabei hatte die Region in den vergangenen Jahren einen Ansturm ausländischer Besucher erlebt, der angesichts des dramatischen Infektionsgeschehens zum Erliegen kam.

Die Soziologin Dagmar Schreiber kam 1994 erstmals mit Zentralasien in Berührung, weil sie drei Jahre für ein Weltbankprojekt in Kasachstan tätig war. Seither hat sie die Liebe zu der Region nicht losgelassen. Sie spezialisierte sich auf Tourismus in Zentralasien und verfasste zahlreiche Reiseführer, in denen sie die Schönheit der Natur, aber auch Länder und Leute kenntnisreich beschreibt. Seit 2003 bietet ihre Internetplattform „Kasachstan-Reisen“ aktuelle Informationen über naturverbundene Reisen für kleine Gruppen nach Kasachstan, Kirgistan, Usbekistan und Tadschikistan an. Mit ihr sprach OWEP-Chefredakteurin Gemma Pörzgen über die Auswirkungen der Coronakrise auf die Reisebranche.

Die Corona-Pandemie trat in Zentralasien im Vergleich zu Europa etwas verzögert auf. Wie hat sich das auf den Tourismus ausgewirkt?

Dagmar Schreiber (Foto: privat)

Die Länder haben verschieden reagiert. Kasachstan war sehr schnell und hat einen kompletten Lockdown mit strenger Ausgangssperre verordnet. Da die Saison eigentlich erst ab Mitte April losgeht, waren aber noch keine Touristen im Land. Das Wetter ist da noch regnerisch und kalt. Die Fluglinien haben ihre Verbindungen in die Region Ende März eingestellt. Ich selbst wollte am 21. März nach Tadschikistan fliegen und hatte dort eigentlich eine ganz wunderbare Tour geplant. Aber Turkish Airlines haben zwei Tage vorher alle Flüge abgesagt. Das war insofern gut, weil die Tadschiken nicht kommuniziert haben, was im Land los war. Sie haben alle einreisenden Ausländer für zwei Wochen in Quarantäne gesteckt und das auch noch in Camps, in die man nicht geraten möchte. Das ist uns zum Glück erspart geblieben.

Was bedeutet die Coronakrise für die Tourismusbranche vor Ort? Da hängen doch wohl Tausende von Arbeitsplätzen dran. Auch in vielen Dörfern leben vermutlich viele Bauern heute sehr stark vom Tourismus, nicht wahr?

Das ist eine echte Tragödie. Wenn man realistisch ist, wird es wohl auch in den nächsten Monaten nicht besser werden. Ich bin selbst auch sehr stark betroffen und musste alle Reisen für dieses Jahr absagen. In Deutschland greift mir der Staat wenigstens mit einer kleinen Betriebskostenhilfe unter die Arme, aber in Zentralasien bekommen die Leute praktisch gar nichts. Die großen Firmen dort überleben vielleicht ein solches Jahr, weil sie Rücklagen haben. Die meisten von ihnen weichen jetzt mit ihren Angeboten auf den Inlandstourismus aus, denn in den Sommerferien verreisen die Leute, die ein bisschen Geld haben, nun im eigenen Land. Aber die mittleren und kleinen Firmen, die Einzelunternehmer haben keine Rücklagen und sind in der Regel wenig flexibel. Gerade in den Dörfern sind die Leute, die Gästehäuser betreiben, völlig ratlos. Zum Glück sind sie oft Selbstversorger und können sich und ihre Familien noch ernähren, aber alle Einnahmen aus dem Tourismus fallen weg. Es lässt sich noch gar nicht abschätzen, wie schlimm das wird. Der Herbst beginnt, Kohl, Kartoffeln und Trockenobst sind eingelagert. Aber wenn dann der Winter hart wird und es an die Vorräte geht, wird auffallen, dass es keine Einnahmen gab. Dann wird es den Leuten richtig schlecht gehen.

Was tun die Regierungen, um diese schwierige Lage zu bewältigen. Usbekistan bietet Touristen zum Ausgleich 3.000 Euro Prämie an, sollten sie sich auf ihrer Reise im Land mit Covid-19 infizieren.

Ich finde das ein bisschen skurril. Es drückt Hilflosigkeit aus und ist eine nette Geste, wird aber nicht viel helfen können. Kasachstan hat Einzelunternehmen im Frühjahr eine kleine Hilfe von rund 100 Euro im Monat gezahlt. Das war aber ein Tropfen auf den heißen Stein. Gerade im Tourismus arbeiten viele in einer Grauzone und sind ohne Steuernummer. Deshalb haben viele Leute auch diese Hilfe gar nicht bekommen.

Und die Touristen bleiben vermutlich weiter aus?

Meiner Einschätzung nach liegt die Risikobereitschaft der Reisewilligen gerade bei Null. Diese Saison ist vorbei, die nächste wird sicher sehr verhalten, es sei denn, die Infektionswellen ebben ab. Das Ansteckungsgeschehen war im Sommer nach dem Ende des Lockdowns sehr hoch, möglicherweise wird ja eine Herdenimmunität erreicht. Aber das ist Kaffeesatzleserei. Den Statistiken kann man jedenfalls nicht trauen. Und angesichts des schlechten Gesundheitssystems ist es wirklich nicht zu empfehlen, sich das Virus dort einzufangen oder in Quarantäne zu kommen. Vor allem Risikopersonen sollten sehr vorsichtig sein.

Welche Staaten in Zentralasien waren denn vor der Corona-Pandemie die Hauptreiseländer für Urlauber?

Alle Länder in Zentralasien haben in den vergangenen Jahren bis zur Coronakrise einen Touristenboom erlebt, vor allem Usbekistan und Kirgistan. Besucher wurden überall willkommen geheißen. Ich bin 1994 zum ersten Mal nach Zentralasien gereist. Damals waren die Länder noch sehr verschlossen und man benötigte überall Visa, die schwierig zu beschaffen waren. Damit nicht genug, wer einreiste, musste sich im Land bei der Polizei anmelden. Das wirkte auf viele Reisende eher abschreckend. Lange vor der Coronakrise war die Visumpflicht zum Glück in allen Ländern, außer in Turkmenistan, abgeschafft worden. Auch die Infrastruktur wurde modernisiert. Es sind viele neue Hotels, Gästehäuser und Restaurants entstanden. Vor allem in Kirgistan gibt es auch sehr schöne Jurtencamps, in denen Touristen inmitten der grandiosen Gebirgslandschaft übernachten können.

Usbekistan hat sich nach dem Tod des langjährigen Machthabers Islam Karimow 2016 stärker geöffnet. 2019 war dort für den Tourismus ein besonderes Erfolgsjahr, nach offiziellen Zahlen mit 6,7 Millionen Besuchern aus dem Ausland. Sind das realistische Besucherzahlen?

Ja, das sind richtige Touristen – im Gegensatz zu Kasachstan, das auch sechs Millionen Besucher angibt, aber davon sind 90 Prozent Gastarbeiter und Kleinhändler. Diese Zahlen sind eher mit Vorsicht zu genießen. Das sagen auch die einheimischen Reiseveranstalter. Kirgistan zählt richtig und hatte 2019 rund 1,8 Millionen Besucher.

An Wochenenden ist Chiwa (Usbekistan) beliebtes Touristenziel, derzeit kommen allerdings nur Einheimische. (Foto: Dagmar Schreiber)

Dominieren in der Region die Gruppenreisen oder hatte auch die Zahl der Individualtouristen zugenommen?

Beides, zunächst gab es mehr Gruppenreisen, aber in den letzten fünf Jahren sind auch immer mehr Individualreisen dazu gekommen. Das hat viel mit dem Abbau der Bürokratie zu tun, denn bei Gruppenreisen erledigt alles der Veranstalter. Es gibt heute auch mehr Hostels und damit preiswerte, unkomplizierte Übernachtungsmöglichkeiten. Auch mit dem Wohnmobil sind Reisen möglich geworden.

Was macht den besonderen Reiz von Reisen nach Zentralasien aus?

Usbekistan ist ein klassisches Seidenstraßen-Reiseziel. Die drei wunderschönen Städte Samarkand, Buchara und Chiwa mit mittelalterlichen Prachtbauwerken sehen wirklich so aus, wie man sich „Tausendundeine Nacht“ vorstellt. Das ist für Bildungstouristen und Städtereisende sehr, sehr schön. Schon seit sowjetischer Zeit werden gute Reisepakete geschnürt, kompetente Reiseführer bieten Stadtführungen in fast allen Sprachen an. Der einzige Wermutstropfen ist, dass in den Innenstädten inzwischen viele der atmosphärischen alten Lehmbauten abgerissen und stattdessen moderne Hotels gebaut wurden, um möglichst viele Touristen unterbringen zu können. Das hat die besondere Atmosphäre dieser Innenstädte teilweise zerstört. Die wunderschönen Moscheen, Koranschulen, Sakralbauten und Märkte sind noch da, aber es fehlt an traditioneller Wohnarchitektur, weil vieles als angeblich rückständig vernichtet wurde. Das wollte man den Touristen nicht zumuten, also weg damit.

Was ist mit Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan?

Die anderen Länder sind eher für Naturtourismus interessant. Sie sind relativ dünn besiedelt, haben gigantische Landschaften, beispielsweise den Pamir und das Tien-Shan-Hochgebirge mit Gipfeln über 7.000 Metern, aber auch Wüsten und weiträumige Steppenlandschaften. Wenn man Natur- und Abenteuerurlaub machen möchte, dann ist man in Kirgistan, Kasachstan und Tadschikistan richtig.

Auf tollen Wander- oder Pferdetouren trifft man höchstens einmal ein paar Hirtenfamilien. Wenn man dort reist, hat man bisweilen den Eindruck, der Herrgott habe die Welt eben erschaffen und du bist jetzt hier der erste, der sie sieht.

Vor der majestätischen Kulisse der Berge des Tien-Shan zeigen Kirgisen ihr reiterisches Können: „Kok boru“ heißt der rasante Kampf zweier Mannschaften um einen Ziegenbalg. (Foto: Dagmar Schreiber)

Auf diese Form des naturverbundenen Reisens haben Sie sich auch selbst als Reiseanbieterin spezialisiert?

Ich hatte mich zunächst auf Wander- und Reittrekking spezialisiert, aber schnell verstanden, dass die Zielgruppe dafür nicht so groß ist. Dann merkte ich, dass es Leute mit sehr speziellen Interessen gibt, zum Beispiel Vogelkundler. Sie möchten bestimmte einheimische oder Zugvogelarten beobachten, die es in Deutschland nicht gibt. Oder Botaniker, die wilde Tulpen sehen wollen. Allein in Kasachstan wachsen mehr als 40 Arten von zauberhaften Wildtulpen und passionierte Botaniker kann man dafür begeistern. Von April bis Juni kann man sie in manchen Jahren auf riesigen Flächen bis zum Horizont blühen sehen.

Wie ist die Perspektive für ein Wiederaufleben des Tourismus?

Da muss ich selbst aufpassen, nicht in Wunschdenken zu verfallen. Ich arbeite gerade meine Reisen für 2021 aus. Das sind Touren mit kleinen Gruppen. Die meisten waren vor Corona schon ausgebucht. Ich muss jetzt versuchen, die Reisen, die 2020 hätten stattfinden sollen, noch zusätzlich ins kommende Jahr zu verlegen. Interessenten gibt es genug. Ich kann nur hoffen, dass es klappt und im Frühjahr dank einer Impfung oder eines anderen Umgangs mit Corona wieder mehr Ruhe in das ganze Geschehen kommt. Vielleicht gibt es dann auch wieder regulären Flugverkehr. Die Hotels achten ja auf Abstandsregeln und die Landschaften sind weitläufig genug, um sich nicht zu nahe zu kommen. Die Tourismus-Unternehmen haben viele Schulungen durchlaufen und warten händeringend darauf, dass die Touristen wiederkommen. Hoffen wir, dass sich viele Reisen nächstes Jahr nachholen lassen und es 2021 weitergeht.