Stepan Bandera, der ukrainische Nationalismus und der transnationale Faschismus

Dr. Grzegorz Rossoliński-Liebe ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin. Der Beitrag basiert auf der von ihm verfassten Biografie „Stepan Bandera. The Life and Afterlife of a Ukrainian Nationalist. Fascism, Genocide, and Cult. Stuttgart 2014“. Er stellte auch das Foto im Text zur Verfügung.

Zusammenfassung

Stepan Bandera gehörte lange zu jenen Akteuren der Geschichte, die vielen zwar dem Namen nach bekannt sind, von deren Leben und Handeln aber kaum jemand etwas Genaueres weiß. Während des Kalten Kriegs war er in westlichen Ländern bei vielen antisowjetischen Aufmärschen auf Transparenten präsent. Zugleich war er ein wichtiger Bestandteil der antiwestlichen sowjetischen Propaganda. Da seine Vita und die Geschichte seiner „Organisation Ukrainischer Nationalisten“ (OUN) nicht erforscht waren, konnte man auf ihn verschiedene Ideen projizieren und ihn als ein Symbol sowohl des nationalen Freiheitskampfes als auch des mörderischen Nationalismus benutzen.

Stepan Bandera wurde am 1. Januar 1909 in Staryj Uhryniw geboren, einem Dorf in Ostgalizien, der östlichsten Provinz der Habsburger Monarchie. Seine Heimat war von Ukrainern, Polen, Juden, Deutschen, Tschechen und anderen ethnischen Gruppen bewohnt, von denen vor allem Ukrainer und Polen rivalisierten und sich im Nationalismus gegenseitig überstiegen. Juden hingegen wurden zum Feind beider nationalen Gruppen stilisiert, wobei sie in diesem Teil Europas im Holocaust überwiegend von ihren ukrainischen Nachbarn und den Deutschen ermordet werden sollten. Da der ukrainische Staat erst 1991 entstanden ist, waren Ukrainer lange verschiedenen imperialen und nationalen Politiken ausgesetzt. Obwohl dies aus nationaler Sicht bis heute als ungünstig interpretiert wird, förderte es die Vielfalt der ukrainischen Kultur und Identität. Nach der Russischen Revolution proklamierten ukrainische Politiker im November 1917 einen Staat in Kiew, ein Jahr später in Lemberg einen weiteren. Ihre Armeen waren jedoch zu schwach, um sich erfolgreich gegen Polen und Russen zu verteidigen, die die Ukraine als ihren eigenen Territorien zugehörig verstanden. Aufgrund dieser Entwicklungen lebten in der Zwischenkriegszeit etwa 80 Prozent aller Ukrainer in der sowjetischen Ukraine und etwa 20 Prozent in Polen.

Europäischer Faschismus und Entwicklung der OUN

Nach dem Ersten Weltkrieg befanden sich die in Polen lebenden ukrainischen Nationalisten, die immer mehr zum Faschismus neigten, in einer ähnlichen politischen Situation wie Kroaten in Jugoslawien oder Slowaken in der Tschechoslowakei. Sie mussten zuerst einen Nationalstaat aufbauen, um anschließend ein faschistisches Regime zu errichten. Ihre Bewegung wies jedoch große Ähnlichkeiten nicht nur mit der kroatischen Ustascha und Hlinkas Slowakischer Volkspartei auf, sondern auch mit der rumänischen Eisernen Garde, den ungarischen Pfeilkreuzlern und dem polnischen Nationalradikalen Lager. Benito Mussolini schulte einige OUN-Kader zusammen mit Ustascha-Kämpfern auf Sizilien. Dadurch baute die OUN besonders gute Kontakte zu den kroatischen „Freiheitskämpfern“ auf. Öffentliche Aufmerksamkeit erlangten zwischenfaschistische Netzwerke und die Rolle des Duce bei ihrer Etablierung unter anderem durch zwei Attentate 1934: Am 15. Juni ermordete die OUN in Warschau den polnischen Innenminister Bronisław Pieracki, und am 9. Oktober fielen der jugoslawische König Alexander I. Karađorđević und der französische Außenminister Louis Barthou in Marseille der Zusammenarbeit von Ustascha und Innerer Makedonischer Revolutionärer Organisation zum Opfer.

Radikalisierung und Ethnisierung des ukrainischen Nationalismus vollzogen sich parallel zu seiner Faschisierung. Die offiziell erst 1929 gegründete OUN bestand von Anfang an aus zwei Generationen: Die ältere der um 1890 Geborenen kontrollierte die Führung im Exil. Sie hatte im Ersten Weltkrieg gekämpft, die Bewegung gegründet und die jüngere so genannte Bandera-Generation in den „Freiheitskampf“ involviert. Diese Gruppe der um 1910 Geborenen dominierte die Landesexekutive in Südostpolen. Sie kannte den Ersten Weltkrieg nur aus den Berichten ihrer Eltern und träumte davon, in einem weiteren Krieg für die Freiheit ihres Landes zu kämpfen. Der im Exil lebende Führer der gesamten OUN, Jewhen Konowalez, genoss anders als sein Nachfolger Andrij Melnyk auch den Respekt der jüngeren Generation. Umfassend faschisierte die OUN ihre Ideologie erst in den 1930er Jahren, doch einige Ideologen wie Dmytro Donzow waren bereits in den frühen 1920er Jahren davon ausgegangen, dass ukrainische Nationalisten auch ukrainische Faschisten seien. In dem 1923 veröffentlichten Artikel „Sind wir Faschisten?“ erklärte Donzow, der großen Einfluss auf die Bandera-Generation hatte, das Programm der italienischen Faschisten und folgerte: „Wenn dies das Programm des Faschismus ist, dann sind wir meinetwegen Faschisten!“ Jewhen Onazkyj argumentierte zunächst, dass die Bewegung nicht faschistisch sein könne, weil kein ukrainischer Staat existiere, in dem sie ihr faschistisches Regime aufbauen könne. Erst infolge interner Debatten änderte er seine Position und behauptete, dass der Faschismus auch eine Revolution sei, die zur Staatlichkeit führe. Mykola Sziborskyj, dessen Beziehung mit einer Jüdin zu Diskussionen in der Bewegung führte, erfand das politische System für den zukünftigen OUN-Staat und nannte es „Naziokratija“ (Diktatur der Nation). Obwohl er mehrmals betonte, dass dieses nicht faschistisch sei, enthielt sein Entwurf alle zentralen Charakteristiken eines faschistischen Staates. Der Antisemitismus wurde in der OUN unter anderem durch Wolodymyr Martynez rassistisch umgedeutet. In der 1938 veröffentlichten Broschüre „Das jüdische Problem in der Ukraine“ behauptete er, dass Juden eine fremde Rasse seien, die von Ukrainern isoliert und nach allen Kräften vom öffentlichen Leben ausgeschlossen werden sollten.

Bandera, der bereits zu Schulzeiten in Kontakt mit anderen jungen Nationalisten gestanden hatte, verinnerlichte seit seinem Eintritt in die OUN 1929 diese Ideologie und gestaltete sie aktiv mit. Er stieg in der Organisation schnell auf und stand – zunächst durch eine Haftstrafe daran gehindert – ab Anfang 1933 offiziell an der Spitze der Landesexekutive in Polen. Er organisierte mehrere Attentate, professionalisierte die ideologische, geheimdienstliche und militärische Ausbildung und verlangte von seinen Untergebenen absoluten Gehorsam. Die Zahl der Morde an OUN-Mitgliedern, die der Zusammenarbeit mit dem polnischen Geheimdienst oder ideologischer Abweichungen bezichtigt wurden, stieg unter seiner Führung deutlich an. Außerdem forcierte Bandera die Propagandakampagnen gegen polnische Schulen und andere Institutionen der Zweiten Polnischen Republik, in die er unter anderem ukrainische Schüler einbezog. Auch wenn die Radikalisierung der westukrainischen Gesellschaft durch die OUN nicht ohne weitere Protagonisten seiner Generation möglich gewesen wäre, ist sie doch maßgeblich auf Banderas Eifer und organisatorische Fähigkeiten zurückzuführen.

Die OUN nutzte 1935/36 Prozesse gegen sich in Warschau und Lemberg, die wegen des Attentats auf den polnischen Innenminister Pieracki und anderer Verbrechen stattfanden, um ihren „Freiheitskampf“ international bekannt zu machen. Bandera stilisierte sich nun explizit zum Führer einer faschistischen Bewegung, die die Ukraine befreien würde. Die Verhängung der Todesstrafe, die in Polen jedoch noch vor der Vollstreckung abgeschafft wurde, verstärkte seinen Ruhm: Bandera wurde endgültig zur politischen Kultfigur. Nachdem der OUN-Führer Konowalez vom sowjetischen Geheimdienst NKWD am 23. Mai 1938 in Rotterdam ermordet worden war, versuchte eine Gruppe ukrainischer Nationalisten, Bandera aus dem Gefängnis zu befreien. Seine Zeit in Haft nutzte er unter anderem dafür, junge Ukrainer zu radikalisieren, die im Zweiten Weltkrieg Massenmorde organisieren sollten.

Staatlichkeit, Massenmorde und politische Ziele

Wenige Tage nach Beginn des Zweiten Weltkriegs brach Bandera aus dem Gefängnis in Brest aus und begab sich nach Lemberg. Zu dieser Zeit überlegte die OUN, einen Nationalaufstand zu initiieren und einen ukrainischen Staat auszurufen, gab diesen Plan jedoch auf, weil die Westukraine aufgrund des geheimen Ribbentrop-Molotow-Paktes in die sowjetische Ukraine eingegliedert worden war. Bandera verließ wie einige Hundert andere OUN-Mitglieder die Westukraine und ging nach Krakau, der Hauptstadt des Generalgouvernements. Dort wurde 1940 der interne Konflikt in der OUN ausgetragen, der zur Spaltung der Bewegung in die radikalere OUN-Bandera (OUN-B) und die „gemäßigte“ OUN-Melnyk führte. Obwohl sich beide Fraktionen vehement bekämpften, kollaborierten sie beide mit den Deutschen und halfen ihnen, den Angriff auf die Sowjetunion vorzubereiten. Gleichzeitig überlegten sie, wie sie anschließend ihren eigenen faschistischen Kollaborationsstaat errichten könnten.

Die OUN-B kontrollierte den Großteil des Untergrundes in der Westukraine und erarbeitete im Generalgouvernement einen detaillierten Plan für den Ausbau eines faschistischen Staates auf allen administrativen Ebenen, den sie „Ukrainische Nationale Revolution“ nannte. An seiner Verwirklichung sollten sich unter anderem die aus ukrainischen Freiwilligen bestehenden Bataillone „Roland“ und „Nachtigall“ der deutschen Wehrmacht sowie die so genannten Marschgruppen beteiligen. Die OUN-B hoffte, dass die Nationalsozialisten ihren Staat akzeptieren würden, und dieser ähnlich wie die Slowakei im März 1939 und Kroatien im April 1940 zu einem politischen Organismus des „Neuen Europa“ unter deren Führung werden würde. Auf einem Kongress Anfang April 1941 in Krakau faschisierte sich die OUN-B weiter und leistete dadurch einen Beitrag zur Gestaltung des europäischen Faschismusdiskurses. Sie führte unter anderem den Gruß „Ehre der Ukraine! – Ehre den Helden!“ ein, diskutierte die Gesundheit der ukrainischen Rasse und verdammte die Juden als Stütze der Sowjetunion. Das Führerprinzip baute sie auf dem Begriff prowidnyk auf, weil der eigentlich besser geeignete Ausdruck woshd bereits zuvor von Melnyk verwendet worden war. Einen Widerspruch zwischen Faschismus und Nationalismus sah die Führung der OUN-B nicht. Ganz im Gegenteil: Ihren eigenen Nationalismus verstand sie – ähnlich wie schon in den 1930er und teilweise auch 1920er Jahren – als eine Form des europäischen beziehungsweise globalen Faschismus.

Beim Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 trat die OUN-B als Verbündeter Deutschlands auf. Ohne die Zustimmung der nationalsozialistischen Führung begann sie, die Ukrainische Nationale Revolution umzusetzen. Obwohl die OUN-B die Abwehr und die Wehrmacht beim Krieg gegen die Rote Armee und den Sicherheitsdienst bei der Ermordung von Juden unterstützte, verbot das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) Bandera, sich in die „befreiten“ Gebiete zu begeben. Daher wurde ihr Staat am 30. Juni 1941 in Lemberg nicht durch den prowidnyk, sondern seinen Vertreter Jaroslaw Stezko ausgerufen, der darüber in Briefen die faschistischen Führer Europas informierte und um Anerkennung bat. Wenige Stunden vor der Proklamation begannen in Lemberg antijüdische Ausschreitungen, die die OUN-B mit den deutschen Truppen in einen zwei Tage dauernden Pogrom verwandelte. Ähnliche Pogrome, die von nationalen Feierlichkeiten begleitet wurden, fanden in vielen ostgalizischen und wolhynischen Orten statt. Bandera wurde von den revolutionären Massen als der Führer des ukrainischen Staates gefeiert. Nachdem er am 5. Juli 1941 verhaftet worden war, weil die OUN-B die Staatsproklamation nicht zurücknehmen wollte, baten Hunderte in Briefen an Hitler um seine Freilassung.

Die Nationalsozialisten errichteten schließlich generell keine Kollaborationsstaaten in Gebieten, die bis zum 22. Juni 1941 im sowjetischen Einflussgebiet gelegen hatten. Stezko und einige weitere prominente OUN-B Mitglieder wurden ähnlich wie Bandera verhaftet und bis Herbst 1944 als Sonderhäftlinge des RSHA in Berliner Gefängnissen und im Konzentrationslager Sachsenhausen gehalten. Darüber hinaus verhafteten die Deutschen einige Hundert weniger bekannte OUN-Mitglieder, von denen etwa 200 ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert wurden. Da auch sie bevorzugt behandelt wurden, überlebten etwa 80 Prozent von ihnen das Lager. Unter den Gestorbenen beziehungsweise Ermordeten befanden sich jedoch Banderas Brüder Wasyl und Olexandr.

Während Stepan Banderas Zeit in Berlin und Sachsenhausen wurden in der Ukraine massenweise Juden ermordet. Die Hälfte aller ukrainischen Juden – etwa 800.000 – wurde auf dem kleinen Gebiet der Westukraine getötet, wo die OUN-B trotz der Verhaftung ihrer Führungsriege die Deutschen beim Judenmord unterstützte. Sie schickte ihre Mitglieder zur Polizei, um sie bewaffnen zu lassen und die Besatzer bei den Deportationen und Erschießungen unterstützen zu können. Aufgrund der kleinen Anzahl von deutschen Polizisten in der Ukraine wäre die Ermordung von mehr als 90 Prozent aller westukrainischen Juden ohne sie nicht möglich gewesen. Etwa zur selben Zeit, als die Deutschen Wolhynien und Ostgalizien für „judenfrei“ erklärten, begann die Anfang 1943 von der OUN-B aufgestellte Ukrainische Aufständische Armee (UPA), dort auch massenhaft Polen zu ermorden. Mit Beginn dieser „Säuberung“ der Westukraine von Polen schlossen sich ihr etwa 5.000 ukrainische Polizisten an, die zuvor die Deutschen beim Holocaust unterstützt hatten. Insgesamt ermordete die UPA zwischen 70.000 und 100.000 Polen und zwang viele weitere dazu, ihre Wohnorte zu verlassen.

Bandera ist für die Verbrechen, die OUN-B und UPA während seiner Internierung in Berlin und Sachsenhausen verübten, nur indirekt verantwortlich. Viele OUN-B-Mitglieder, die während des Holocaust in der deutschen Polizei dienten, und ein Teil der UPA-Partisanen, die Polen und Juden ermordeten, identifizierten sich zwar mit Bandera und betrachteten ihn als ihren prowidnyk oder bezeichneten sich selbst als banderiwzi (Bandera-Anhänger), aber Bandera erteilte ihnen keine Befehle. Seine politische Wirkungsmöglichkeit war in dieser Zeit eingeschränkt. Die politische Leitung war in den Händen von Roman Schuchewytsch, Mykola Lebed, Dmytro Kljatschkiwśkyj und anderen, die direkt vor Ort die Morde anordneten und die „Säuberung“ der Westukraine koordinierten. Als Führer der Bewegung war Bandera jedoch moralisch für die Verbrechen der OUN-B und UPA verantwortlich. Vor dem Krieg machte er kein Geheimnis daraus, dass „nicht nur Hunderte, sondern Tausende von Menschenleben geopfert werden müssen“, damit die OUN ihre Ziele realisieren und ein ukrainischer Staat entstehen könne. Die Massengewalt beziehungsweise die „Säuberung“ der Ukraine von Juden, Polen, Russen und anderen „Feinden“ der Organisation war ein zentraler Bestandteil seiner Ziele.

Kalter Krieg, Mord und Neubelebung des Kultes

Am 28. September 1944 wurde Bandera aus Sachsenhausen entlassen, weil die Nationalsozialisten nach erheblichen Niederlagen Osteuropäer für den Kampf gegen die Rote Armee mobilisieren wollten. Bandera wirkte daran mit, verließ jedoch im Februar 1945 mit seiner Familie Berlin und versteckte sich in den folgenden Monaten in Österreich und Süddeutschland. Kurz nach dem Ende des Kriegs baute er mit Unterstützung des amerikanischen und britischen Geheimdienstes ein OUN-Zentrum in München auf. Die CIA, der MI6 und später auch der Bundesnachrichtendienst arbeiteten mit ihm zusammen. Sie finanzierten seine Organisation, schützten ihn und seine Familie vor dem sowjetischen KGB und bildeten seine Anhänger aus, die sie als Spione in die sowjetische Westukraine schickten, um dort Kontakt zum ukrainischen Untergrund aufzubauen. Doch weitere Konflikte innerhalb der OUN, auch wegen Banderas radikaler Ansichten und andauernder Begeisterung für den Faschismus, schwächten die Bewegung. In den frühen 1950er Jahren verspielte er das Vertrauen zuerst der CIA und anschließend auch des MI6, die lieber Mykola Lebed und dessen Anhänger innerhalb der OUN unterstützten. Einzig der Bundesnachrichtendienst distanzierte sich nicht von ihm und arbeitete weiterhin mit Bandera zusammen, bis dieser am 15. Oktober 1959 in München durch den jungen westukrainischen KGB-Agenten Bohdan Staschinskyj ermordet wurde.

Der Mord an Bandera, der erst aufgeklärt werden konnte, nachdem der Attentäter sich im August 1961 der Westberliner Polizei gestellt hatte, belebte den Kult um seine Person erneut. Mehrere Tausend seiner Verehrer hatten die Westukraine im Sommer 1944 mit den Deutschen verlassen und sich nach dem Krieg in Nordamerika, Großbritannien und auch Westdeutschland niedergelassen. Für sie wurde Bandera zum Märtyrer, der wie ein Held im Kampf um die Freiheit seines Landes gefallen war. Dem Kult um seine Person setzte die Sowjetunion ihre eigene Propaganda entgegen. Ihr zufolge hätten die ukrainischen Nationalisten die Sowjetunion verraten und wären moralisch und politisch sogar schlimmer als die Nationalsozialisten gewesen, weil sie nach dem Sieg der Roten Armee ihre Landsleute in der Westukraine bis in die frühen 1950er Jahre hinein noch terrorisiert hätten. Bandera ist in diesem Diskurs zum Symbol des Verrats und der Massenmorde an sowjetischen Bürgern geworden. Die Bezeichnung banderiwzi wurde unter anderem benutzt, um gegen Dissidenten vorzugehen. Bandera wurde für die Diaspora zur Identifikationsfigur eines antisowjetischen Nationalhelden, der sein Leben für eine freie Ukraine gegeben hatte.

Denkmal für Stepan Bandera in Lemberg (2007 errichtet) - Foto: Grzegorz Rossoliński-Liebe

Ab den späten 1980er Jahren, noch vor dem Zerfall der Sowjetunion, tauchte der Bandera-Kult auch in der Westukraine erneut auf. Nach 1991 wurden vor allem in Ostgalizien für den prowidnyk mehrere Denkmäler errichtet, vier Museen eröffnet und Hunderte Straßen nach ihm benannt. Ebenso wurde er im Unterricht in Schulen und an Universitäten verehrt. Doch erst im Laufe der Präsidentschaft von Wiktor Juschtschenko (2005-2010) wurde der öffentliche Kult auf die übrige Ukraine ausgeweitet. Er stieß dort jedoch auf politischen und kulturellen Widerstand, weil die Mehrheit der dort lebenden Menschen sich mit der sowjetischen und nicht mit der nationalistischen Geschichte ihres Landes identifizierte und in Bandera weiterhin einen Verräter sah. In den vergangenen Jahren wurde der Kult um den westukrainischen Nationalhelden – der ein überzeugter Faschist gewesen war – zumindest ansatzweise auch aus demokratischen Gründen hinterfragt. Dies sorgte in allen Teilen des Landes für Verwirrung und wurde als eine Bedrohung eigener Traditionen verstanden. Insbesondere die Faschismus- und Holocaust-Forschung erregte die Gemüter vieler Kenner der ukrainischen Geschichte und motivierte sie zur Verteidigung eigener, zum großen Teil im Kalten Krieg entwickelter und bis heute nicht revidierter Denk- und Forschungsansätze.

Schlussbetrachtung

Stepan Bandera wurde durch Instrumentalisierung und mangelnde historische Forschung zu einer Projektionsfläche für verschiedene geschichtspolitische Ziele. Während der Majdan-Proteste 2013/14 in Kiew demonstrierten nicht nur neofaschistische, sondern auch die Demokratie unterstützende Ukrainer mit Bandera-Transparenten für die Annährung der Ukraine an die EU beziehungsweise die Beendigung der prorussischen Politik.

Der Bandera-Kult hat bis heute kaum an Wirkungsmacht verloren, weil bestimmte Aspekte der ukrainischen Geschichte lange Zeit einerseits nicht erforscht, andererseits aktiv tabuisiert wurden. Dazu gehörten neben der Beteiligung ukrainischer Nationalisten am Holocaust auch die Faschisierung der Bewegung beziehungsweise die innovative Schöpfung eines genuin ukrainischen Faschismus. Eine aktive Auseinandersetzung mit der komplexen historischen Realität jenseits von Verteufelung und kultischer Verehrung Banderas gefährdet aus Sicht vieler Politiker und Intellektueller in der Ukraine die Existenz des ohnehin instabilen Staates.

Der transnationale Faschismus ist neben einer komplexen Geschichte der deutschen Besatzung und des Judenmordes zentral, um Bandera und die radikale Form des ukrainischen Nationalismus zu verstehen. Bandera wollte einen faschistischen Kollaborationsstaat im von den Nationalsozialisten kontrollierten „Neuen Europa“ errichten. Die „Säuberung“ des Staates von Juden, Polen, Russen und anderen ethnischen und politischen „Feinden“ war ein fester Bestandteil des politischen Programms der OUN, das die Bewegung zumindest in der Westukraine teilweise realisierte. Der ukrainische Fall – ähnlich wie der kroatische, slowakische oder rumänische – zeigt, dass der radikale Nationalismus in keinerlei Gegensatz zum Faschismus stand, sondern mit ihm verschmolz beziehungsweise ein fester Bestandteil dessen war.