Wachturm der Erinnerung
Zusammenfassung
Die Mauer ist schon lange verschwunden, aber vereinzelt stehen noch Grenztürme als Mahnmale deutsch-deutscher Geschichte. Eine ständige Ausstellung zur Geschichte des DDR-Grenzregimes bietet der Grenzturm im brandenburgischen Nieder Neuendorf. Das frühere Sperrgebiet ist heute ein Wohnviertel.
Turm der Erinnerung
Am früheren DDR-Grenzturm in Nieder Neuendorf nordwestlich von Berlin ist die dunkle Vergangenheit längst Geschichte. Es ist ein idyllischer Platz mit Blick auf die Havel und den Nieder Neuendorfer See, mit prachtvollen Bäumen am Ufer, mitten in einem ruhigen Viertel moderner Einfamilienhäuser.
Nur der frühere Wachturm erinnert noch an die ehemalige Grenzanlage der DDR, die an dieser Stelle über Jahrzehnte die DDR und West-Berlin trennte. Zwei Menschen wurden hier nachweislich beim Fluchtversuch von Grenzsoldaten erschossen. Auf dem Spazier- und Radweg gibt es zwei Gedenkstelen für den 20-jährigen Peter Kreitlow und den 24-jährigen Franziszek Piesik. An der Straße hält ein bescheidenes Schild mit der Aufschrift „Platz der Maueropfer“ die Erinnerung wach. Wer mit dem Auto vorbeifährt, kann die Gedenkstätte allerdings leicht übersehen. Sie wirkt hier unvermutet.
Der neun Meter hohe Grenzturm am Uferbereich ist einer der letzten vorhandenen Wachtürme der DDR im ehemaligen Grenzabschnitt Berlin, erläutert die Sprecherin der Stadtverwaltung Hennigsdorf Andrea Linne. „Er wurde 1987 als Führungsstelle des Grenzregimentes 38 ‚Clara Zetkin‘ für 18 weitere Grenztürme erbaut“. Von hier aus wurde die Grenzsicherung koordiniert und im Zweifelsfall eben auch scharf geschossen.
Am Eingang zum Grenzturm sitzt der ehrenamtliche Mitarbeiter Bernd Wendlandt in der Sonne, der die Besucher freundlich begrüßt. Der 79-Jährige lebt seit seiner Kindheit in diesem Stadtteil von Hennigsdorf. In seiner Jugend habe es hier noch einen Strand gegeben, erzählt er. Mit seinen Freunden ist er hier oft und gerne in der Havel geschwommen, bis dann die Mauer kam.
Insgesamt ließ die DDR-Regierung 302 Wachtürme rund um West-Berlin errichten, von denen heute nur noch vier erhalten sind. Nach der Öffnung der Grenze im Herbst 1989 und dem anschließenden Abbau der Grenzanlagen wurden die meisten Beobachtungstürme deutschlandweit abgerissen. Heute findet man entlang der ehemaligen Grenze nur noch wenige Türme, die besichtigt werden können. Einige von ihnen gingen in privaten Besitz über.
Als 1989 die Mauer in Nieder Neuendorf fiel, haben die Anwohner gleich mitgeholfen, die hohe Betonwand einzureißen, die ihnen jahrelang den Blick verstellte, erzählt Wendlandt. „Der Turm blieb zum Glück stehen“. Die Stadt habe zunächst die Eisentür verschlossen und ihn einfach stehenlassen. „Nach der Wende wurde er als ‚Zeitzeuge‘ erhalten und ist seit November 1999 für die Öffentlichkeit zugänglich“, sagt dazu die Sprecherin der Stadt. Das Land Brandenburg stellte den Turm im gleichen Jahr unter Denkmalschutz.
Seit 2014 bietet der Grenzturm eine überarbeitete, ständige Ausstellung, die auf zwei Stockwerken, die Geschichte dieses Ortes erzählt. Zugleich wird der Turm aber auch historisch in das System der DDR-Grenzanlagen einordnet. Die ausgestellten Fotografien zeigen, wie es hier früher aussah, als das ganze Gelände Sperrgebiet war und ein unzugängliches Niemandsland. „Das kannten wir auch nur aus dem Fernsehen“, sagt Wendlandt dazu. Für die Anwohner im Ort war das ganze Gelände nicht zugänglich und vollständig abgesperrt.
Wer heute die Metallstiegen in den zweiten Stock hochsteigt, erlebt beim Blick aus den Fenstern rundum einen herrlichen Ausblick. Kein Wunder, dass viele Besucher kaum glauben können, was hier früher gewesen ist. Wendlandt erzählt von Schulklassen, bei denen schon seine Erzählung über zwei deutsche Staaten Erstaunen auslöst, weil sie im Schulunterricht nichts über die DDR-Geschichte zu hören bekommen.
Persönliche Motive und individuelles Gedenken
„Junge Leute können sich nicht mehr vorstellen, dass hier mal eine Grenze war“, wundert sich der Rentner oft.
Aber es gibt auch ganz andere Besucher im Grenzturm: Zu den eindrucksvollsten gehörte ein Australier, der extra angereist kam, weil ihm hier in der Havel einst schwimmend die Flucht aus der DDR gelang. Nach der Ankunft in der Bundesrepublik zog es ihn weiter in die Ferne, und er wanderte nach Australien aus.
„Die Leute kommen von überall her“, sagt Wendlandt. Schließlich lasse sich an diesem historischen Ort und dank der Ausstellung noch manches erklären. Im September 2022 gab es einen Rekord, da wurde der 10.000. Besucher begrüßt.
Auch an diesem sonnigen Herbsttag ist die Ausstellung am historischen Ort gut besucht. Ein Radfahrer hält am Grenzturm an. Der frühere Magdeburger lebt schon lange an der norddeutschen Küste in Kiel und fährt in den Ferien gerade den ganzen Grenzlandweg entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze ab.
Er besucht alle noch vorhandenen Grenztürme. „Dieser eine fehlte mir noch auf meiner Radtour“, sagt er. „Erschreckend, was hier geschah.“ Der Radfahrer findet es aber auch traurig, dass von der Mauer wenig geblieben ist. „So geht die Erinnerung verloren“, befürchtet er. „Obwohl ich erst 50 Jahre alt bin, trete ich häufig in der Schule meiner Kinder als Zeitzeuge im Geschichtsunterricht auf, damit nicht alles in Vergessenheit gerät.“
Iris Herklotz hat aus Berlin-Pankow einen Ausflug nach Nieder Neuendorf gemacht, weil ihr verstorbener Mann einst bei einem vergleichbaren Turm in Babelsberg als DDR-Soldat einst seinen Dienst versah und ihr immer ausführlich davon erzählt hat. Da dieser Turm jedoch nicht mehr steht, wollte sich die 68-Jährige an anderer Stelle mal einen persönlichen Eindruck verschaffen.
Alltägliche Objekte der DDR-Vergangenheit
In der Ausstellung erinnern die früheren Schießschächte im Mauerwerk an die alten Zeiten. Ausgestellt wird neben Fotografien und Dokumenten unter anderem ein Feldfernsprecher. Aber auch Medaillen und Urkunden für treue Dienste bei den DDR-Grenztruppen gibt es zu sehen.
In einer Vitrine ist ein Gedichtband ausgestellt mit dem Titel „Auf dem Posten“, der den Grenzdienst für DDR-Bürger offenbar in ein poetisches Licht tauchen sollte. Der Alltag sei doch etwas anders gewesen, sagt die Besucherin Herklotz. „Acht Stunden Dienst, acht Stunden Waffenreinigung und Vorbereitung, acht Stunden Schlafen.“ Insgesamt tausend Stunden seines Lebens habe ihr Mann in einem solchen Grenzturm verbracht. „Sonst hätte er nicht studieren können“, sagt sie wie zur Entschuldigung.
„Im Winter war es eiskalt, ohne Heizung, nur der kahle Beton“, ergänzt Wendlandt die Historie. Zumindest das ist hier gleichgeblieben. Auch jetzt wird es bereits im Herbst für die ehrenamtlichen Mitarbeiter zu kühl, um am Wachturm die Besucher zu betreuen. Die Ausstellung macht deshalb ab 3. Oktober jedes Jahr Winterpause bis zum nächsten Frühjahr.