Konsolidierung und neuerliche Radikalisierung

Ungarns Populismus an der Macht
aus OWEP 3/2017  •  von Ferenc Laczó

Dr. Ferenc Laczó ist Assistenzprofessor für Europäische Geschichte, Schwerpunkt Mittel- und Osteuropa. Nach Forschungsaufenthalten u. a. in Jena, Basel, Wien und Berlin lehrt er z. Zt. an der Universität Maastricht.

Zusammenfassung

In den vergangenen Jahren ist Ungarn wiederholt in die Schlagzeilen gekommen. Innen- und Außenpolitik der Regierungspartei Fidesz stoßen auf Unverständnis, Äußerungen von Ministerpräsident Viktor Orbán zum „illiberalen Staat“ rufen Proteste hervor, die letztlich verpuffen. Wieso hat gerade Ungarn, einst einer der Musterstaaten des politisch-gesellschaftlich Wandels, diesen Weg eingeschlagen? Der folgende Beitrag gibt Antworten auf diese Frage und blickt auch in die Zukunft Ungarns, die im Moment eher trübe aussieht.

I.

Der Populismus griff im letzten Jahrzehnt in der ungarischen Politik beträchtlich um sich und bestimmte sie zunehmend. Das Phänomen trat erstmals 2006 auf, nahm 2008 an Bedeutung zu, kam 2011 an die Macht und schien sich dort zu konsolidieren, um dann seit 2015 immer radikaler in Erscheinung zu treten. Seit 2010 entwickelten sich der rechtsorientierte populistische Stil und Inhalt der Politik zu solch auffälligen Merkmalen der Regierungstätigkeit, dass das durch Fidesz1 gesteuerte Land innerhalb der Europäischen Union häufig als Pionier gesehen wird hinsichtlich einer autoritären Wende, die sich seither auf Länder wie Polen und das (noch) Vereinigte Königreich ausgebreitet hat und die, wenn man Panikmachern folgt, in naher Zukunft sogar das gesamte Projekt der europäischen Integration gefährden könnte.

Was genau machte die populistische Wende unmittelbar nach Ungarns Beitritt zur Europäischen Union im Jahr 2004 möglich, als der Übergang zum westlichen Modell einer freiheitlichen Demokratie weitgehend als beendet und abgeschlossen erachtet wurde? Über die Reduzierung der politisch maßgeblichen europäischen Kontrolle während der Phase vor der EU-Vollmitgliedschaft hinaus – wobei viele Experten ironischerweise zugeben, die EU übe auf Bewerberländer stärkeren Druck aus als auf Mitgliedsstaaten –, liegt einer der wesentlichen Gründe im Verblassen des Hauptnarrativs oder Leitgedankens aus der Übergangsperiode. Dieser Leitgedanke, der sich auf die Europäisierung gerichtet hatte, verlor einen Großteil seiner Glaubwürdigkeit, als der institutionelle Prozess zwar abgeschlossen wurde, die materiellen Vorteile jedoch ausblieben. Die EU subventionierte zweifelsohne ihre ärmeren Mitgliedsstaaten und trug somit zur Verringerung einiger massiver regionaler Ungleichheiten bei, insgesamt aber tat die europäische Integration viel zu wenig, um die strukturellen Unterschiede innerhalb der Union zu überwinden. Entgegen ziemlich naiver Erwartungen setzte sich die strukturelle Benachteiligung der osteuropäischen Länder für die Generation der Post-Transformationsphase fort.

II.

Warum hat sich die populistische Wendung in Ungarn als besonders radikal erwiesen? Der negative Grund liegt darin, dass die postkommunistische Linke nach 1989 zunächst aufblühte und erst mit dem Generationswechsel im Führungspersonal zu Beginn des 21. Jahrhunderts in eine Krise geriet. Diese Krise auf der linken Seite des Parteienspektrums wurde durch die politischen Skandale im Jahr 2006 ernsthaft verschärft – die skandalöse, in die Öffentlichkeit durchgesickerte Rede des gerade wiedergewählten Premierministers Ferenc Gyurcsány, die Straßenkrawalle und die darauffolgende starke politische Polarisierung.2 Noch bevor die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise das Land außerordentlich schwer getroffen hat, stand dort seit Jahren ein Politiker an der Spitze, dem offensichtlich die hinreichende Herrschaftslegitimität fehlte.

An diesem Punkt ist die Geschichte der Postkommunisten eng mit jener der Rechtsradikalen verknüpft: der langwierige, aber gewaltige Niedergang der Ersteren ging einher mit dem spektakulären Aufstieg der Letzteren. Die steigende Popularität und zunehmende Radikalisierung der rechtsorientierten Kräfte in Ungarn zeigte sich im vergangenen Jahrzehnt de facto als ein kontinuierlicher Prozess. Es ist eine allgemein anerkannte Tatsache, dass die westeuropäische Rechte nach der Überwindung des Faschismus einen Prozess der Entradikalisierung durchlebte – diese Entwicklung lässt sich in gewisser Weise am Beispiel der langjährigen Vorherrschaft der Christdemokraten in Westdeutschland versinnbildlichen. In denjenigen Ländern, die vor 1945 über eigene radikale rechtsgerichtete Bewegungen und Regime verfügten, jedoch nachfolgend sowjetisiert wurden, war die unbarmherzige Unterdrückung der Rechten nach dem Ende des Krieges nicht mit einer innenpolitischen Entradikalisierung rechtsorientierter Vorstellungen verbunden.

Eine Verkettung unglücklicher Umstände im frühen 21. Jahrhundert – die Unzufriedenheit mit den tatsächlichen Errungenschaften eines nominell erfolgreichen Wandels; die Diskreditierung führender post-kommunistischer Politiker, die zu lange im Zentrum der Macht gestanden hatten; der gravierende wirtschaftliche Abschwung kurz vor den Wahlen von 2010 – löste einen politischen Erdrutsch aus. Die Bewegung Jobbik3 veränderte sich von einer Randströmung zu einer mittelgroßen Partei, während es Fidesz zeitgleich gelang, sich zur Volkspartei des Zentrums zu entwickeln, ohne dabei die eigene rechte Agenda abzumildern. Beide zusammen erhielten 2010 nahezu 70 Prozent der Stimmen, wohingegen die Linke und die Liberalen, die seit 2002 die Regierungskoalition bildeten, plötzlich mit weniger als 20 Prozent abschnitten. Fidesz erlangte mehr als zwei Drittel der parlamentarischen Mandate, obwohl die Partei von zwei mittelgroßen Parteien eingerahmt wurde und vom politischen Begriff her im Wesentlichen wie eine Partei der breiten Mitte auftrat. Vom sozioökonomischen Bild her und hinsichtlich der Anhängerschaft in den verschiedenen Altersgruppen der Bevölkerung entsprach das Profil der Fidesz-Wähler genau dem der Gesellschaft als Ganzes.

Immer wieder wird behauptet, Populismus sei grundsätzlich eine rein oppositionelle Taktik und würde daher von den Parteien nach dem Gewinn der Macht nicht mehr eingesetzt – das Beispiel Ungarn belehrt die Beobachter leider eines Besseren. Seit 2010 verfolgt Fidesz konsequent die populistische Linie; eine Institution nach der anderen wurde durch Schwächung der im demokratischen System verankerten Gewaltenteilung unterworfen. Fidesz brachte es außerdem ebenso fertig, ein politisch-ökonomisches System zu schaffen, in dem die Partei, der ungarische Staat und die örtliche kapitalistische Wirtschaft eng verflochten sind und Schlüsselressourcen größtenteils von Fidesz-Sympathisanten kontrolliert werden.

Seither ist es Fidesz gelungen, in Krisensituationen Unterstützer zu mobilisieren und zahlreiche auf unterschiedliche Gegner zielende Propagandakampagnen zu inszenieren. Gleichzeitig setzt die Partei auch auf eine Strategie der Demobilisierung: Dem politischen Leben in Ungarn fehlt es an sinnhaften Diskussionen und Debatten, und umfassende Segmente der Wählerschaft werden zunehmend passiv, ja sogar apathisch – Fidesz handelt angeblich im Namen eines homogenen ungarischen Volkes, sein Populismus mobilisiert und entpolitisiert praktisch gleichermaßen. Fidesz’ Strategie der Entpolitisierung profitierte in hohem Maße vom Exodus Hunderttausender gut gebildeter junger Menschen: Die Freizügigkeit innerhalb des europäischen Raums trägt damit paradoxerweise zur Machtkonsolidierung des Orbán-Regimes bei.

III.

Populistisches Gedankengut wie beispielsweise die Vorstellung, das Subjekt der Politik sei ein homogenes und rein ungarisches Volk, dessen allgemeiner Wille durch seine derzeitigen Anführer – und nur durch diese – vertreten werde, steht im Mittelpunkt des vorherrschenden politischen Diskurses. Eine Folge dieser Art von Politik ist ein abgeschwächter Autoritarismus, der zwar in der neueren Geschichte Ungarns nichts Neues darstellt, jedoch innerhalb der Europäischen Union ein Novum bildet und als Phänomen kaum nachvollziehbar bleibt.

Man muss sowohl die historische als auch aktuelle Lage in Europa berücksichtigen, um zu verstehen, warum die jetzige Lage so beunruhigend ist. Das politische Leben in Ungarn zeigte sich wiederholt in Gestalt einer seltsamen Mischung, sei es unter Miklós Horthy in den 1920er Jahren, unter János Kádár in den 1970er Jahren oder derzeit unter Viktor Orbán: im Wesentlichen eine Art autoritärer Herrschaft verbunden mit einem Mindestmaß an Liberalismus und einem Anschein von Freiheit.4 In den vorangegangenen Jahrzehnten konnte die politische Kultur Ungarns ohne offenkundigen Widerspruch in der Zwischenkriegszeit unter Horthy eine radikale rechtsgerichtete Ideologie mit pragmatischen Formen des Konservatismus kombinieren oder die Strukturen eines totalitären Regimes ohne die augenfälligsten und schlimmsten Auswüchse der totalitären Herrschaft aushalten, wie es in der kommunistischen Zeit unter Kádárs Herrschaft der Fall war. Auch Fidesz führte eine spezielle Mischung ein: Einparteienherrschaft innerhalb eines Gebildes, das aussieht wie ein Mehrparteiensystem, Wahlen mit mehreren Parteien, die unfair ablaufen, eine pluralistische Medienlandschaft unter direkter Kontrolle der herrschenden Partei, offene Drohungen, denen bezeichnenderweise bisher kein noch unerhörteres Durchgreifen gefolgt ist, und ein illiberales Regime, das in hohem Maße davon abhängig ist, Teil einer Union liberaler Demokratien zu sein.

Gleichwohl ist das fast vollständige Zusammengehen von Fidesz mit der durch Jobbik repräsentierten rechtsorientierten Opposition die offensichtlichste und bedenklichste politische Entwicklung der letzten Monate. Bei Umfragen nach der politischen Einstellung zeigte sich bereits vor Jahren, dass Fidesz-Wähler höchstwahrscheinlich autoritäre Gesinnungen aufweisen, die denen von Jobbik ähneln. Man erklärte dies teilweise damit, dass Fidesz mit Billigung der Anhängerschaft selbst autoritär regiert, während einige der Jobbik-Wähler sich selbst als nonkonforme Rebellen oder Freiheitskämpfer sehen (und sich selbst gewissermaßen für „antiautoritäre Autoritäre“ halten). Weitaus überraschender und beunruhigender ist jedoch die in der Gesellschaft massiv gestiegene Fremdenfeindlichkeit – ein Gebiet, auf dem sich eine weitgehend passive und unbewegliche Wählerschaft an der Mobilisierung der Machthaber gegen Migranten mitschuldig gemacht hat. Unter den Fidesz-Wählern erreicht das Niveau, was dieses Thema angeht, inzwischen das der Jobbik-Wähler. Damit zeigt sich, dass es sinnlos ist, auf einer Trennung zwischen Mainstream und radikaler Rechten zu bestehen.

Auf europäischer Ebene lässt sich die Vorgehensweise von Fidesz wie folgt charakterisieren: zwei Schritte vorwärts, einen Schritt zurück. Die Fidesz-Parteigänger scheinen eine vorsichtige Strategie der Eskalation zu verwenden, die durch wirksame Irreführung erstaunlich gut funktioniert: Während Orbán wie der Radikale anmutet, der die Unbeweglichkeit europäischer Institutionen und den unbeliebten Status quo anficht, wirkt er gleichzeitig wie ein Politiker, der zur Debatte und zum Kompromiss bereit ist. Es ist in der Tat nicht zu übersehen, wie bereitwillig sich Orbán auf europäischer Ebene engagiert im Vergleich zu seinem Handeln im „eigenen“ Mitgliedsstaat (wo er es bevorzugt, einer ernsthaften Auseinandersetzung aus dem Weg zu gehen).

IV.

Letztlich bleiben Unstimmigkeiten zwischen einer in ihrer Rhetorik Europa-skeptischen Regierung, die „die Verteidigung (des Abendlandes)“ hervorhebt, in Wirklichkeit aber die Vergrößerung von Bereichen nationaler Souveränität anstrebt, und einer größtenteils pro-europäischen, zwar nicht liberalen und trotzdem demokratisch ausgerichteten Gesellschaft. Von größerer politischer Bedeutung ist jedoch, dass Fidesz als Partei auf europäischer Ebene keine Einbußen erlitten hat: Fidesz ist ein zwar umstrittenes, aber grundsätzlich geschätztes Mitglied der Europäischen Volkspartei. Trotz der fragwürdigen Machtkonzentration muss Ungarn auf EU-Ebene höchstwahrscheinlich kein Kontrollverfahren befürchten, anders als die derzeit amtierende polnische Regierung.

Die Wertesysteme von Merkel und Orbán mögen in Bezug auf bestimmte Schlüsselthemen Welten voneinander entfernt sein, doch hinsichtlich vieler anderer alltäglicher Angelegenheiten bewahren sie ihr pragmatisches Bündnis miteinander. Zwar mag Orbán gezeigt haben, dass er der erste Anführer innerhalb der EU ist, der am äußersten rechten Rand steht, jedoch führte dies – ungeachtet scharfer Pressereaktionen und des allgemein sinkenden Ansehens Ungarns – nicht zu seiner Isolation. Im Gegenteil: Immer öfter wird er als ein Politiker sichtbar, dessen Ansichten und Vorschläge zwar infrage gestellt, aber häufig auch ernst genommen werden.

Können wir nennenswerte Zeichen der Hoffnung erkennen, wenn wir die Abwesenheit der strukturellen Voraussetzungen für eine sorgfältige und kritische Überprüfung Ungarns auf europäischer Ebene betrachten und zugleich erkennen, dass der Wille der internationalen Gemeinschaft, den Druck auf das Land zu erhöhen, kaum vorhanden ist – zumal in einer Welt, in der Donald Trump in den USA an der Macht ist? Die Mitglieder der kulturellen Elite verbleiben typischerweise in Opposition gegen den Weg, den das Land eingeschlagen hat, und einige von ihnen lieferten bereits aufschlussreiche und kritische politische Abhandlungen. Negativ ist besonders die Unterfinanzierung der Universitäten, die das Engagement kritischer Intellektueller mehr und mehr einschränkt. Erschwerend kommt hinzu, dass vielen auch der Zugang zu den Mainstream-Medien verwehrt wird.

Nun sinkt die Beliebtheitsquote für Fidesz seit Jahren, auch sind die Akzeptanzquoten der Regierung nicht mehr beeindruckend, aber dennoch gelang es ihr angesichts des eher mageren Angebots der übrigen Parteien, einen stabilen Vorsprung in der Wählergunst zu behaupten. Vielleicht wäre es denkbar, dass eine neuartige und glaubwürdige gemäßigte oder links-liberale Partei kurzfristig als ernsthafter Herausforderer die politische Bühne betreten könnte. Indessen steht es momentan eher schlecht um die Aussicht, dass dieses Szenario sich tatsächlich vor den nächsten Wahlen im Jahr 2018 verwirklichen könnte.

Aus dem Englischen übersetzt von Thomas Hartl.


Fußnoten:


  1. Fidesz – Ungarischer Bürgerbund, kurz Fidesz oder Fidesz-MPSZ steht für „Fiatal Demokraták Szövetsége“, deutsch: Bund junger Demokraten) und wurde 1988 gegründet; der heutige Parteivorsitzende Viktor Orbán war bereits früh eine seiner wichtigsten Persönlichkeiten. Fidesz hat sich aus einer ursprünglich liberal ausgerichteten Protestbewegung zu einer rechtskonservativen Partei entwickelt. ↩︎

  2. Nach den Wahlen 2006 gestand Ministerpräsident Gyurcsány (MSZP, Sozialdemokraten) ein, während des Wahlkampfs bewusst gelogen zu haben. Als dies bekannt wurde, kam es in Ungarn zu den schwersten Unruhen seit 1989/90. Informationen dazu z. B. unter http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/gyurcsany-wir-haben-gelogen-1357262.html (letzter Zugriff: 11.07.2017). ↩︎

  3. Jobbik ist die Kurzbezeichnung für „Jobbik Magyarországért Mozgalom“ (deutsch: Bewegung für ein besseres Ungarn). Jobbik wurde 2003 gegründet. „Jobbik“ kann im Ungarischen sowohl die „Besseren“ als auch die „Rechteren“ bezeichnen und kommt dem Selbstverständnis der Partei, die politisch extrem rechts einzuordnen ist, entgegen. ↩︎

  4. Miklós Horthy (1868-1957) war das Staatsoberhaupt Ungarns („Reichverweser“) von 1920 bis 1944, János Kádár (1912-1989) war der führende Politiker in Ungarn in kommunistischer Zeit (1956-1988/89 „Ära Kádár“). ↩︎