Die Ukraine fünf Jahre nach dem Majdan

Ein Land im Frieden? (Reportage)
aus OWEP 4/2019  •  von Michael Albus

Prof. Dr. Michael Albus ist Theologe, Journalist und der verantwortliche Redakteur dieser Zeitschrift. Die Reportage und die Interviews entstanden anlässlich einer Reise, die ihn Anfang August 2019 in die Ukraine führte.

Zusammenfassung

Die Ruhe in der Ukraine ist trügerisch: Im Osten tobt ein nahezu vergessener Krieg, große soziale und wirtschaftliche Probleme stehen einer gedeihlichen Entwicklung im Wege. Ob der neugewählte Präsident Wolodymyr Selenskyj tatsächlich grundlegende Reformen durchsetzen kann, ist noch völlig offen. Wie die Reportage deutlich macht, wird trotz mancher Fortschritte die Stimmung im Lande von Skepsis geprägt.

Ein schöner Abend im Herzen der ukrainischen Hauptstadt Kiew im Sommer 2019, fünf Jahre nach der letzten Revolution auf dem Majdan. Viele Menschen sind unterwegs. Alles scheint aufgeräumt. Von Chaos oder Krieg keine Spur – ein Land im Frieden?

In den Medien Europas hören und lesen wir immer wieder, aber auch immer seltener von Krieg im Osten der Ukraine. Namen wie Donezk und Luhansk tauchen in den Nachrichten auf. Wir hören und lesen Namen wie Putin, Poroschenko, neuerdings Selenskyj, den Namen des gerade gewählten neuen Präsidenten der Ukraine. Bis vor wenigen Monaten war er noch ein Schauspieler und Unterhaltungskünstler im Fernsehen. Wir hören und lesen von einem neuen Parlament, gerade gewählt mit vielen neuen Gesichtern, vor allem jungen. Es sind immer wieder dieselben Klischees, die in den Nachrichten auftauchen. Aber das Land ist in einem unerklärten Krieg. Immer noch sterben gewaltsam Soldaten und Zivilisten. Insgesamt hat dieser Krieg bisher 13.000 Menschenleben gefordert.

Davon ist an diesem Abend in Kiew nichts zu spüren. Frieden? – Nein! Der Krieg ist weit entfernt im Osten. Er zieht sich hin. Der Frieden auch. Es herrscht eine Art Schwebezustand. Entschieden ist nichts. – Ein Sommerabend. Schäfchenwolken am dunkelblauen Abendhimmel. Sie ziehen ostwärts. Die Sichel des zunehmenden Mondes taucht auf. Eine Rockband spielt.

Um die Ukraine zu verstehen, muss man längerfristig denken

Andrij Waskowycz, Präsident der ukrainischen Caritas, denkt in anderen Kategorien als in denen der schnellen Nachrichten und schreienden Schlagzeilen, anders als in denen der vertrauten, manchmal allzu vertrauten Klischees. Er kennt sich aus in den Souterrains des Landes, unter der Oberfläche des schönen Scheins. Mit Nachdruck sagt er: „Wenn man das Land und seine gegenwärtige Lage auch nur annähernd verstehen will, muss man die längerfristigen geschichtlichen Entwicklungen in den Blick nehmen, die Langsamkeit entdecken, an die früheren Kämpfe gegen Okkupanten aller Art erinnern. Noch lange vor Hitler, Stalin und Genossen, noch länger vor Putin. Und mit Selenskyj ist noch keine neue Ära angebrochen. Er kann scheitern wegen mangelnder Erfahrung. Populismus ist nicht die Lösung.“1 – Das klingt skeptisch. Ist wie ein Widerlager gegen die Stimmung im Land, die Aufbruch signalisiert. Aber nicht im Osten. Andrij Waskowycz mahnt zur Vorsicht. – Mit der vielfältigen und komplexen Arbeit der Caritas Ukraine greifen er und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter konkret in die Entwicklung des Landes ein. Die Caritas, eine kirchliche Organisation, ist Teil der Zivilgesellschaft. Sie ist per se ein Politikum. Keine Trostpflasterorganisation, die Almosen verteilt, die vielmehr zunehmend und entschiedener auf Hilfe zur Selbsthilfe setzt, Hand anlegt, konkrete Strukturen schafft, anstatt große Worte zu machen und Sprechblasen zu produzieren. Die Caritas der griechisch-katholischen Kirche (UGKK) geht einen eigenen Weg. Zwischen den Fronten. Der Frieden hat auch seine Fronten. Nicht nur, wie man landläufig meint, der Krieg.

Brennende Probleme schwelen unter einer dünnen Oberfläche

Wie zum Beweis dafür war der Tag in einem Caritaszentrum in Kiew, etwa 15 km von der Stadtmitte entfernt. Hier ist der Glanz der „modernen“ Stadt dahin. Baufällige, völlig heruntergekommene Häuser aus der sowjetischen Zeit prägen das Bild. Übervolle, offene Mülltonnen stehen herum, Tauben wühlen darin und zwei Ratten huschen hin und her. Tiefe Schlaglöcher auf den Straßen, Überschwemmung nach einem heftigen Regenguss. Die Abflusskanalisation funktioniert schon lange nicht mehr. Von außen gleicht das Zentrum, das 1992, ein Jahr nach der Unabhängigkeit der Ukraine gegründet wurde, den Häusern in der Umgebung. Innen hört und fühlt es sich anders an. Stimmen sind zu hören, im Flur stehen Kartons mit gesammelten und gespendeten Kleidern. Kinder malen, spielen, toben. Es wird Essen organisiert, das in die Häuser gebracht wird, wo Hunger herrscht und das Geld für den Kauf von Lebensmitteln fehlt. Eine Nähstube gibt es auch.

Im Caritaszentrum: Michael Albus (rechts) im Gespräch mit Roman Syrotytsch (links) und Alla Kotschubej (zweite von rechts) [Foto: Caritas der griechisch-katholischen Kirche der Ukraine/Vazyl Vosniak]

Roman Syrotytsch, der Leiter des Zentrums, kommt ohne Umschweife zur Sache. Er nennt Stich-Worte, spricht von brennenden Problemen, schwelend unter einer trügerischen Oberfläche: Wirtschaftskrise, Wohnungsnot, Nahrungsmittelmangel. Kinderarmut, Armut von alten Menschen in großer Zahl, mangelnde Bildung, fehlende Aus- und Fortbildung. Das ist sie: die Kehrseite der glitzernden Oberfläche, die seit dem Kriegsbeginn in den letzten fünf Jahren zunehmend prekärer wird. Erfolge stellen sich nur langsam ein, der Atem muss „lang“ sein und partielles Scheitern darf nicht das „Aus“ bedeuten. Im Gegenteil! Eher Ansporn und Mut zu neuen, besseren Anfängen. Die Caritas in Kiew ist ein großes Laboratorium. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind kompetent und engagiert, befinden sich in einem ununterbrochenen Lernprozess. Im Gespräch mit Alla Kotschubej wird das überdeutlich. Sie ist die Koordinatorin. Eine zupackende, bodenständige, warmherzige Frau, die sich nichts vormachen lässt. Sie weiß auch mit dem alltäglichen und allnächtlichen Scheitern umzugehen. Sie kennt das untere Ende, die Wunden, die Narben des Krieges, auch die seelischen Verletzungen. Hier sind sie zu sehen und hautnah zu spüren.

Der stille Druck der Binnenmigration hält an

Ein Hauptthema sind und bleiben die Flüchtlinge aus dem Osten des Landes, die Kinder vor allem unter ihnen, die in schwierigsten Familienverhältnissen leben. Nach wie vor hält der stille Druck der Binnenmigration an. Denn seit Beginn des Krieges sind mehr als 1,7 Millionen Menschen aus dem Kriegsgebiet geflohen und haben in anderen Landesteilen Zuflucht gesucht. „Ungefähr 130.000 von ihnen“, so Roman Syrotytsch, „sind nach Kiew gekommen und versuchen, sich in das Leben der Hauptstadt zu integrieren.“ Aber die Fremden bleiben fremd. Ein Menschheitsthema.2 Theoretisch gut bearbeitet. Praktisch eine tägliche und nächtliche Herausforderung. Eine permanente Provokation. Als der Flüchtlingsstrom nach 2014 anschwoll, wurden selbst im Caritas-Zentrum Binnenflüchtlinge untergebracht, um der schlimmsten Not Einhalt zu gebieten. Die Wohnungssuche ist und bleibt ein Problem.

Arbeit im Caritaszentrum Kiew mit mehrfach behinderten Kindern [Foto: Caritas der griechisch-katholischen Kirche der Ukraine/Vazyl Vosniak]

Die Geflüchteten aus dem Osten der Ukraine bleiben in den meisten Fällen „Fremdlinge“. Ihnen wird vorbeugende Hilfe geleistet. Im Vordergrund stehen Kinder und ihre Familie, Familien und ihre Kinder. Eltern und Alleinerziehende werden in die Pflicht genommen. Es werden Verträge mit ihnen geschlossen, damit sie Kinder zur Ausbildung schicken, sich selber fortbilden und damit ihr Schicksal und das ihrer Kinder in eigene Hände nehmen und auf eigene Beine stellen und dadurch gehen, das heißt handeln können. Aktiv werden, statt passiv zu verharren. – Die staatlichen und städtischen Hilfen sind mangelhaft. Die Caritas steht ihnen skeptisch gegenüber. Roman Syrotytsch meint, es könnte die Gefahr bestehen, dass die Caritas Alibi wird für den Staat, zum Abschiebebahnhof für das schlechte Gewissen der schlechten städtischen und staatlichen Sozialeinrichtungen und Sozialhilfe. Im Ganzen ein schwieriges Feld, dass Roman Syrotytsch und Alla Kotschubej so umschreiben: Die soziale Situation wird insgesamt schlechter, die Preise steigen, die Gehälter sinken. So sieht die andere Seite der Gesellschaft in der Ukraine aus. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Caritas in der Ukraine wird die Arbeit nicht ausgehen. Auch ohne die Folgen des Krieges nicht. Die Probleme liegen tiefer. Der Krieg verschärft sie nur.

Visiten in der Unterwelt

Spielen mit Kindern im Caritaszentrum – fern von Armut und Krieg [Foto: Caritas der griechisch-katholischen Kirche der Ukraine/Vazyl Vosniak]

An diesem Tag besuchen wir mit Mitarbeiterinnen der Caritas noch drei alte, sehr alte Leute, die von ehrenamtlichen Frauen in ihrer Not über Wasser gehalten werden. Das Besondere ist ihre Wohn- und Lebenssituation. Sie leben allein in den heruntergekommenen Wohnblocks aus der Sowjetzeit. Die Häuser sind, gelinde gesagt, in einem katastrophalen baulichen Zustand. „Baufällig“ ist zu milde formuliert, in den dunklen Treppenhäusern beißender Gestank. Die Wohnungen reine Drecklöcher. Wirklich renoviert wird schon lange nicht mehr. Alle drei Personen, zwei Frauen, 86 und 74 und der Mann, 62, die wir besuchen, sind gehbehindert. Eine der beiden Frauen ist auf Dauer bettlägerig.

Ihre Situation ist besonders schlimm. Als sie ihre Lage schildert, bricht sie in hemmungsloses Weinen aus. Ihr Mann ist gestorben, der Sohn auch und die schwierige Tochter hat ein behindertes Kind und kann sich also auch nicht um die Mutter kümmern. Versuche der Nachbarschaftshilfen sind in sich zusammengebrochen. Immerhin kommt in längeren Zeitabständen noch ein Pfarrer zu Besuch. Der Mann ist am rechten Bein amputiert worden. Ein Rollstuhl älterer Bauart steht im Zimmer. Er kann nicht verwendet werden, weil niemand die Kraft hat, den Mann samt Rollstuhl die Treppen hinauf und hinunter zu bringen. Die Mitarbeiterinnen der Caritas sind ihr einziges Hoffnungslicht. Sie kommen, so oft sie können, reinigen die Wohnungen und kochen das mitgebrachte Essen.

Die drei Besuche waren Visiten in der Unterwelt. Sie scheinen Wartestationen auf den Tod. Als wir die Wohnung verlassen, geht ein Gewitter mit einem heftigen Wolkenbruch über der Stadt herunter. Sofort stehen alle Seitenstraßen knöcheltief unter Wasser.

Der Bürgermeister von Kiew heißt Klitschko – der weltberühmte Boxer. Ein Mitarbeiter der Caritas nennt ihn großmäulig und korrupt. Das ist noch ein ganzes anderes Thema in der Ukraine: die Korruption. Sie hat alle Teile der Gesellschaft und des Staates befallen. Auch die Kirchen. – Aber: Es gibt auch die „Anderen“, die nicht lange reden und in der Analyse hängen bleiben, die Hand anlegen. Ich bin ihnen begegnet in der Ukraine. Diesmal am Rande der großen Stadt Kiew. Sie verdienen allen Respekt.

Der Kampf war nicht umsonst. Die Jungen sind politischer geworden

Dzwinka Tschaikiwska ist Ärztin und inzwischen Generalsekretärin der Caritas Ukraine. Ich habe sie vor fünf Jahren kennengelernt, als sie mir von ihrem Einsatz auf dem Majdan erzählte, wie sie die Verwundeten, die Schwerverletzten behandelt hat und ihnen auch seelischen Beistand leistete.3 Ich frage sie, wozu eigentlich der Kampf, der Einsatz in diesen Jahren 2013/2014 nütze war, was er gebracht hat. Sie antwortet schnell und entschieden: „Der Kampf war nicht umsonst. Die Freiheit hat einen hohen Preis. Das haben die Menschen damals begriffen. Ich glaube, wenn ein neuer Majdan notwendig würde, kämpften die Menschen wieder. Die Jugendlichen in der Ukraine sind politischer als früher – nicht alle, aber doch ein beträchtlicher Teil von ihnen. Wirkliche Veränderungen, die ins Bewusstsein dringen, gehen langsam. Die Freiheit ist nicht einfach zu haben.“ Den neuen Präsidenten Selenskyj möchte Dzwinka Tschaikiwska noch nicht abschließend beurteilen, denn das wäre ein Vor-Urteil: „Er war und ist ein Komödiant, der seine politischen Erfahrungen noch machen muss. Hoffentlich keine allzu bitteren. Sehr bald wird sichtbar werden, ob er seine Chance wahrnehmen kann. An den gegenwärtigen politischen und militärischen Fakten kann er erst einmal nichts sofort ändern. Aber im Osten des Landes ist Krieg, oft fast vergessen, aber er wirkt sich mehr und mehr auch auf den westlichen Teil der Ukraine aus.“ Und Putin, frage ich? Was wird er tun? – „Er kann sich nicht die ganze Ukraine nehmen“, sagt sie.

Die Aufgabe der Caritas in der jetzigen Lage ist klar: „Es gilt, weiter auf- und auszubauen. Es gilt, wirksame Strukturen der Hilfe zu schaffen, die Menschen in Not nicht als Objekte des Helfens zu betrachten, sondern als Subjekte, die zur Selbsthilfe befähigt werden müssen. Langsam kommt diese Entwicklung in Gang, langsam. Auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Caritas müssen davon noch mehr überzeugt werden. Die Existenz der Caritas ist ein Politikum. Die Caritas ist Teil der Zivilgesellschaft. Sie ist kein Gegenüber zum Staat. Ihre Arbeit ist komplementär. Ihr Plus ist die Nähe zu den konkreten Menschen.“

Wir wollen, dass die Menschen in der Ukraine persönliche Verantwortung übernehmen

Mykhajlo Melnyk ist der Leiter der griechisch-katholischen Sozialakademie.4 Er ist griechisch-katholischer Priester und Mitglied der Fokolarbewegung, einer weltweiten kirchlichen Vereinigung. Die Akademie wird von der Kirche getragen. Er hat im Ausland studiert und viele Erfahrungen in sozialen Brennpunkten gesammelt. Die Sozialakademie wurde nach der „Revolution der Würde“ 2013/2014 gegründet. Sie fühlt sich der katholischen Soziallehre verpflichtet, hat vor allem jüngere Menschen in den verschiedensten Bereichen der Gesellschaft, zum Beispiel auch junge Unternehmer, im Blick und versucht, neue Wege im Bildungsbereich zu gehen. Und sie bietet mit viel junger Kompetenz Beratung an.

Mykhajlo Melnyk will, dass junge Menschen in seinem Land „Demokratie lernen“, sowohl die, die in der Wirtschaft tätig sind, als auch die, die auf lokaler Ebene arbeiten. Die Strategie, die die Sozialakademie verfolgt, ist der modernen Gesellschaft angepasst und lässt sich ohne Vorbehalt auf sie ein. Sie versucht, Einfluss zu nehmen inmitten der Gesellschaft. Das erfordert die Fähigkeit zur Anpassung, eine osmotische Struktur der Arbeit, im biblischen Sinne „Sauerteig“ zu sein, eine Synodalität von Kirche und Welt. „Die Menschenwürde kommt mit der Arbeit!“ Dieser Satz ist Melnyk sehr wichtig. Entsprechende Programme verfolgt die Akademie mit ihren Angeboten. Jobvermittlung auch für Behinderte. Inklusion ist ein wichtiges Thema. Die Arbeit ist offen angelegt. Ohne Scheuklappen.

Auf die aktuelle Situation nach den Wahlen und den Sieg Selenskyjs angesprochen meint Melnyk: „Selenskyj wird das verstehen, was wir wollen, obwohl er keine persönliche Beziehung oder Verbindung mit dem Christentum hat und eher agnostisch gestimmt ist. Er kann sich nicht verschließen, wenn er sieht, was wir wollen: Dass die Menschen in der Ukraine, vor allem die jungen, Verantwortung übernehmen, persönliche Verantwortung. Wir wollen an der Show teilnehmen und ein Risiko eingehen.“ Es geht um ein sinnvolles Leben. „Ich sehe Selenskyj als Chance für ein Jahr. Dann werden wir sehen. Abhängig sind wir nicht. Wir wissen, was wir wollen. Auf jeden Fall nicht abseits stehen. Und wir wollen mit unseren Kräften verhindern, dass in der Gesellschaft irgendeine Leere entsteht, eine Sinnlosigkeit. Wir wollen eine Vision für die Zukunft der Ukraine entwickeln. Eine konkrete Vision.“

Krise als Zeit der Offenheit für neue Lösungen

Krise ist ein vielgebrauchtes Wort. Ein Schlagwort auch. Landläufig meint man damit, dass es einer Person oder einer Sache nur noch schlecht geht. In Wirklichkeit aber ist Krise, wie bei einem Kranken, eine Zeit, in der sich etwas oder alles entscheidet. Eine Zeit der Offenheit, des Versuchs, neue Wege zu gehen.

Neue Lösungen findet man nicht Hals über Kopf. Nicht, indem man einfach handelnde oder nichthandelnde Personen austauscht, Tapeten wechselt oder die Fassaden neu streicht. Schnelle Lösungen sind meist kurzschlüssig. Sie können zum Kurzschluss führen, bei dem die Lichter ausgehen.

Ich habe in den Sommertagen in der Ukraine immer mehr den Eindruck bekommen, dass sich das Land in einer Krise dieser Art befindet, dass die Menschen, bei aller verständlichen und begründeten Ungeduld, langsam die Langsamkeit entdecken, die notwendig ist, um nachhaltige Lösungen zu finden, um das Unterbewusstsein von Klischees zu befreien.

Durchdringend war auch der Eindruck, zumindest in der Stadt, dass die meisten Menschen eine freie europäische Lebensweise bevorzugen, in jedem Fall der Demokratie den Vorzug geben wollen vor anderen politischen Systemen. Mit Ideologie und „kurzer Leine“ hat das Land genug geschichtliche Erfahrungen sammeln, ja schmerzlich ertragen müssen. Die Probleme des Landes sind sichtbar und erfordern auch weiterhin unsere Beachtung und unseren Beistand, auch in unserem Interesse und im Interesse Europas, denn die Ukraine ist ein Teil dieses Europas.


„Die Menschenhändler finden trotz strenger Gesetze immer einen Weg“

Iryna Bojko beschäftigt sich seit 2014 mit der heiklen Frage des Menschenhandels. Im Gespräch mit Michael Albus berichtet sie über ihren Einsatz für Opfer des Menschenhandels im Caritaszentrum Kiew.

Gibt es auch Kontakt mit den Tätern? – Mit den Tätern haben wir noch nicht gearbeitet. Die meisten von ihnen sind jetzt im Gefängnis. In den letzten fünf Jahren haben 173 Opfer Sozialhilfe bekommen und ein großer Teil von ihnen konnte inzwischen in die Gesellschaft integriert werden. Statistisch gesehen sind übrigens die meisten Opfer Männer, nur etwa 20 Prozent sind Frauen. Auch Kinder sind darunter. Mit sechs von ihnen habe ich gearbeitet.

Können Sie einmal einen konkreten Fall, zum Beispiel bei Kindern, beschreiben? – Es ist ein schreckliches Beispiel. Eine Mutter hat ihre siebenjährige Tochter an einen unbekannten Mann für 700 Euro verkauft. Und nachdem dieser Mann das Kind mehrfach sexuell missbraucht hatte, hat er es weiterverkauft an ein Geschäft. Dort musste das Kind, um sein Essen zu verdienen, Autos waschen. Oder ein anderes Beispiel noch: In einem zweistöckigen Gebäude in der Stadt wurde ein Bordell eingerichtet. Die Polizei hat es ausfindig gemacht. Unter den Frauen, die dort arbeiten mussten, waren auch Mädchen im Alter zwischen 12 und 17 Jahren. Die Mädchen waren völlig desorientiert. Sie wussten nicht, wieso sie dazu gezwungen wurden von den Menschenhändlern.

Das ist ein besonders dunkles Kapitel. Oft bleiben die Opfer unbekannt oder reden selbst nicht davon. Das betrifft hier vor allem Frauen. Ich erinnere mich an eine Frau, die nach Polen fuhr, um dort zu arbeiten. Sie wurde zu sexuellen Handlungen gezwungen, um die Arbeit nicht zu verlieren.

Iryna, welche Ausbildung haben Sie und wie verkraften Sie das alles persönlich? – Von der Ausbildung her bin ich Juristin und arbeite als Rechtsanwältin. Die Arbeit im Bereich des Menschenhandels mache ich jetzt schon sieben Jahre. Das ist nicht immer einfach, denn es gibt da auch eine internationale Problematik, etwa bei der Arbeitsvermittlung über Russland. Die Menschenhändler finden trotz strenger Gesetze immer einen Weg, um ihr schmutziges Geschäft zu betreiben. Immer wichtiger wird aus meiner Sicht die psychologische Unterstützung der Opfer. Es ist auch nicht ungefährlich, wie ich selbst erfahren musste: Eine Frau kam zu mir mit einer Pistole, ich musste um mein eigenes Leben fürchten.

Das ist meine tägliche Arbeit! So ist das! Mit Hilfe der Psychologen, also durch Supervision, schaffe ich das. Aber es ist sehr belastend und auch anstrengend.

Ich erinnere mich jetzt gerade an einen Mann im Alter von 63 Jahren, ein Opfer, der bei einer Besprechung im Projekt dabei war, wie er in Tränen ausbrach in der Erinnerung an das, was ihm widerfahren war. Es ist einfach schrecklich, was Menschen einander antun. Das zerstört ein ganzes Leben und man wird die traumatischen Erfahrungen nicht mehr los. Da versuchen wir auch zu helfen, so gut es geht.

Wir machen von Zeit zu Zeit von der Caritas aus auch öffentliche Aktionen gegen diese Verbrechen. Wir versuchen zu sensibilisieren, aufmerksam zu sein, wenn einem so etwas begegnet, und es anzuzeigen.


Fußnoten:


  1. Vgl. auch das Interview auf S. 296-302 (der gedruckten Ausgabe). ↩︎

  2. Vgl. dazu auch das Interview auf S. 293-295 (der gedruckten Ausgabe). ↩︎

  3. Michael Albus: In Ängsten und siehe wir leben. Ukrainische Augenblicke im Sommer 2014. In: OST-WEST. Europäische Perspektiven 15 (2014), H. 4, S. 304-312, hier S. 305 f (der gedruckten Ausgabe). ↩︎

  4. Vgl. auch Mykhaylo Melnyk: „Den Menschen dazu befähigen, die Zukunft zu gestalten.“ Die griechisch-katholische Sozialakademie in Kiew. In: OST-WEST. Europäische Perspektiven 20 (2019), H. 2, S. 150-154 (der gedruckten Ausgabe). ↩︎